TABLEAU D’HONNEUR
Frankreich 1992 Regie: Charles Némès Drehbuch: Charles Némès Dialoge: Philippe Ferran Kamera: Etienne Fauduet Musik: Marc-Olivier Dupin Schnitt: Adeline Yoyotte-Husson Kostüm: Rose-Marie Melka Produzent: Paul Claudon Produktion: C.A.P.A.C. / Investimage 3 / Cofimage 3 / Canal + Länge: 93 Min. Premiere: 26.8.1992
Darsteller:
Guillaume de Tonquédec (Jules Martin), Claude Jade (Gabrielle Martin), Philippe Khorsand (Paul Martin), Cécile Pallas (Cécile), Eric Elmosnino (Christian Ribet), Francois Berléand (Alain Denizet, der Aushilfslehrer), Evelyne Buyle (Geneviève Fournet, die Sekretärin), Jean-Paul Roussillon (Albert Croquebois, der Schuldirektor), Katie Kriegel (Simone Chandeau, die Masseurin), Patrick Guillemin (Vachette, der Sportlehrer), Mathias Mégard (Didier Portman), Guillaume Gallienne (Castagnier), Léa Drucker (Solange), Stéphanie Ruaux (Marijo), Marine Jolivet (Apothekerin), Judith Rémy (Isabelle), Brigitte Chamarande (Fernsehreporterin) u.a.
Zwischen einem Vater, der unter dem Vorwand von Reisen in die Provinz seine Geliebte in der Nachbarschaft besucht, und einer liebevollen aber passiven Mutter führt Jules ein eintöniges Leben. Als Abiturient an einer schicken Privatschule entdeckt er seine Vorlieben für Molière und Demonstrationen. Als Jules von seinem Vater eine Ohrfeige erhält, verweigert Maman Gabrielle dem Gatten das Bett – und gönnt sich eine Affaire mit dem Sportlehrer ihres Sohnes…

Claude Jade und Guillaume de Tonquédec in „Tableau d’honneur“
„Tableau d’honneur“ eröffnet Claude Jade Anfang der 90er Jahre ein neues Rollenbild im Kino – das der Komikerin.
Mit der Serie „Les oiseaux rares“ hatte sie sich 1967 – ein Jahr vor ihrem Filmdebut – als veritable Komödiantin von ungestümem Temperament empfohlen und das Fernsehen bot ihr hin und wieder komische Rollen, etwa in „La Mandragore“.
Mit „Mon oncle Benjamin“ hatte Claude Jade bewiesen, dass sie mit ihrer Schalkhaftigkeit auf der großen Leinwand zu bezaubern weiß, doch hemmungslos herumalbern durfte sie kaum – abgesehen von ihrer Nebenrolle als mannstolle Patricia in Didier Kaminkas Anarchospaß „Trop c’est trop“, den mit knapp einhunderttausend Kinobesuchern kaum jemand gesehen hatte.
Charles Nemes hatte bis dahin zwei reine Gag-Komödien mit Spaßvogel Gérard Jugnot gedreht. Bevor er sich später Brachialhumor mit den Komikerduos Eric und Ramzy oder Omar und Fred zuwendet, besetzt er Claude Jade als Gabrielle Martin, die unter dem Kommando ihres herrischen Anwaltsgatten Paul steht – für Claude Jade ein Wiedersehen mit Philippe Khorsand aus „Nous ne l’avons pas assez aimée“. Zuallererst ist sie hier Mutter des achtzehnjährigen Jules (Guillaume de Tonquédec, nach kleinen Auftritten bei Zidi und Kieslowski in seiner ersten Hauptrolle), um dessen Wohlergehen sie sich sorgt und damit – vorerst – eine Auseinandersetzung mit der eigenen Ehekrise verdrängt.

Guillaume de Tonquédec, Philippe Khorsand und Claude Jade in „Tableau d’honneur“
Die Besetzung Claude Jades als transparenter Mutter begründet Thomas Sotinel in seiner Kritik in „Le Monde“ als von eine von Nemes angestrebte Deutung auf eine hypothetische Verwandschaft zu François Truffaut. Claude Jade, hier sehr fern von Truffauts Universum, verkörpert die Gabrielle pointiert als liebevolle, zu Beginn etwas biedere und am Ende lebenslustige Mutter. Gabrielle bittet den strengen Maître kleinlaut, nicht so hart mit dem Kleinen zu sein und steckt Jules verlegen etwas Geld zu, da sie sich nicht traut, gegen ihren autoritären Mann anzugehen.
Die 38jährige vertraut ihrem Gatten und versichert dies einer Freundin am Telefon, als Paul vorgibt, wegen eines Vergewaltigungsprozesses nach Dijon zu reisen: „Oh nein, ich glaube, Paul könnte mich nicht vergewaltigen. Er hat mich noch nie vergewaltigt. Aber ich würde ihn besser nicht fragen … Oh, das würdest du gerne sehen? Ah, wenn du willst, müssen wir Paul nur bitten. Oh nein, er ist von einer bestürzenden Treue. Seine Phantasie ist von der Sorte Walt Disney – kein Sinn für Perversion.“
Paul amüsiert sich derweil im nur wenige Straßen entfernten Salon einer Masseuse, die nahezu jeden als Prostituierte bedient, so auch Jules und dessen von François Berléand gespielten sympathischen Aushilfslehrer Alain Denizet.
Wenn Gabrielle und Paul später im Fernsehen einen Boxkampf anschauen, geht dann doch die Phantasie mit der braven Ehefrau und Mutter durch – aus den Boxern werden sie und Paul. Auf dem Bildschirm schlägt Gabrielle ihren Mann im Ring k.o., um hernach über den in den Seilen hängenden Paul herzufallen und ihn leidenschaftlich zu küssen. Weitaus ungewohnter noch als eine Claude Jade im Boxring erscheint ihre Reaktion auf diese Vorstellung: Lasziv lässt sie unter einem Schlafzimmerblick ihre Zunge im leicht geöffneten Mund kreisen.
Ein anderes Mal grimassiert sie mit aufgeblasenen Wangen, wenn der strenge Vater zum wiederholten Mal seinen Sohn maßregelt, freilich hinter dessen Rücken. Sie erhebt die Stimme gegen den Hausdespoten erst, nachdem Jules im Fernsehen als Demonstrant zu sehen war und deshalb von seinem staatskonformen Vater eine Ohrfeige erhalten hat. Sie weist seine Umarmung zurück und verweigert ihm das Bett, ihr Refugium, in dem sie neben Umberto Ecos „Foucaultschem Pendel“ besonders verzückt Marguerite Duras‘ „Der Liebhaber“ liest. Claude Jades Eleganz verhindert dabei jeden Gedanken an Vulgarität, selbst als sie ihrem Mann nach einem Disput ein „Fick dich“ (Je t’emmerde) hinterherflüstert.
Amüsiert nimmt Gabrielle zur Kenntnis, dass eine von Jules’ Freundinnen Witze über Standesdünkel und ihre bornierten Eltern reißt, noch mehr als ihr Mann darüber gar nicht lachen kann. Claude Jades Gabrielle blüht zusehends auf. Als sich Jules bei einem Fußballspiel im Sportunterricht die Hand verletzt, eilt Gabrielle aufgelöst in die Schule und trifft auf den stattlichen Sportlehrer Vachette. Den spielt Patrick Guillemin, der seine Kinokarriere 1976 als Boxer Angelo in Patrice Lecontes „Les vécés étaient fermés de l’interieur“ begonnen hatte. Claude Jade verfehlt in ihrer hilflosen Zerstreutheit keinesfalls die Wirkung auf einen Macho wie Vachette.

Claude Jade und Patrick Guillemin in „Tableau d’honneur“
Dieser beruhigt sie und lädt sie in ein Café ein. Dass dies nicht ohne Hintergedanken geschieht, verrät sein Blick eines Connaisseurs auf ihren federnden Gang.
Als Gabrielle ihn wohlerzogen am Nachschenken hindern will, lässt sich der zielsichere Vachette nicht bremsen.
Dass seine künftige Eroberung ihrerseits von den Erinnerungen Marguerite Duras’ an ein gewisses Junggesellen-Appartement im Chinesenviertel von Saigon recht angetan ist, kann ihr auserwählter Seitensprung nicht ahnen.
Beschwipst vom ersten Stelldichein gibt sie Jules am Schulhof vor seinen Kameraden (u.a. Kinodebütant Guillaume Gallienne) ein heftiges Küsschen, das er sich von der Wange wischt und macht sich dann über seine Empörung lustig: eine weitere Szene, in dem Claude Jade ihr unmaniriertes Talent zum Herumalbern einsetzen darf.
Guillaume de Tonquédec (1966) wird von 1986 bis 1989 am Konservatorium von Michel Bouquet und Daniel Mesguich unterrichtet. Nach Nebenrollen, u.a. in „La double vie de Véronique“, spielt er 1991 in „Tableau d’honneur“ seine erste Hauptrolle. In den 90er Jahren ist er in Inszenierungen von Jacques Weber am Théâtre des Célestins in Lyon zu erleben, wo Claude Jade von 1975 bis 1984 in sechs Stücken gespielt hatte. Von 1999 bis 2000 spielt er neben Claude Jade in der Serie „Cap des Pins“. Im Fernsehen wird er vor allem als Thomas Sorensen in „Commissaire Cordier“ (2006-2008) und als Renaud in „Fais pas ci, fais pas ça“ (seit 2007) populär. Am Théâtre Édouard VII, wo Claude 1967 ihre Ausbildung erhielt, spielt er 2010 in „Le prémom“; für seinen Claude in der Verfilmung des Stücks erhält Guillaume de Tonquédec 2013 den César.
Gabrielle tauscht gepunktete Blusen gegen ein elegantes Kostüm (Claude Jade trägt es zu jener Zeit auch als Präsidentin eines Filmfestivals), raucht zur Überraschung ihres Sohnes neuerdings Zigaretten und beginnt zu erstrahlen. Steht das Leitmotiv Entwicklungsroman für Hauptfigur Jules, so erlaubt der Film nun auch Claude Jades Gabrielle eine (über)deutliche Wandlung.
Dass der Sportlehrer ihn nun weitaus generöser behandelt als zuvor, bezieht der selbst in Liebeswirren befindliche Jules nicht auf seine Maman. Während Jules die hübsche Cécile (Cécile Pallas) anschmachtet, die ausgerechnet die Tochter der Masseurin ist, erlebt Gabrielle ihren zweiten Frühling.

Eine Sitz-Omi sorgt nah der Apothekenkasse für einen gewissen Überschusseinkauf. Claude Jade in „Tableau d’honneur“
Gabrielle wird sich beim Gatten für dessen Seitensprünge revanchieren und besorgt sich in einer Apotheke Kondome.
Auf und ab laufend, weil eine Omi neben der Kasse thront, druckst sie schließlich, mit allerlei Drogerieprodukten eingedeckt, freundlich bei der Apothekerin (Marine Jolivet) herum. Auf deren direkte Nachfrage, ob das Gummi denn groß oder klein und mit oder ohne Reservoir sein soll, gibt sie sich eloquent und aufgeklärt, vor Scham dabei fast im Apothekenboden versinkend.
„Variety“ hebt diese Szene mit Claude Jade als beste dieser „Kino-Sitcom“ hervor, da sie sich „ebenso schüchtern anstellt wie man es aus dem Kino sonst nur von Teenagern kennt.“

Guillaume de Tonquédec, Claude Jade, Philippe Khorsand in „Tableau d’honneur“ (1992)
Heute gilt „Tableau d’honneur“ als Karrierestart dreier Jungschauspieler, die zwanzig Jahre später Kinostars werden: Guillaume Gallienne erhält 2014 vier Césars für seinen Film „Maman und ich“; Césars erhalten auch Eric Elmosnino 2011 für „Gainsbourg“ und Guillaume de Tonquédec 2013 für „Der Vorname“.
Die Veteranen um Claude Jade und Philippe Khorsand – Jean-Paul Roussillon als Schuldirektor und Evelyne Buyle als dessen Sekretärin – haben launige Auftritte. Die vielen Gags funktionieren. Als freche Gesellschaftssatire bleibt „Tableau d’honneur“, etwa mit diskreten Anspielungen auf SOS Racisme, etwas harmlos; dennoch ist Nemes‘ Adoleszenz-Komödie ein intelligentes Vergnügen.
Und zur Zeit des Kinostarts bricht Claude Jade ein wenig mit ihrem Image – als heimliche Lesbierin in Jean-Pierre Mockys „Bonsoir“ .
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