zwei Filme in Rom 1973: Number One / La ragazza di Via Condotti

„Claude Jade we Włoszech“: die polnische „Ekran“ zu Claude Jades zwei neuen Filmen in Italien / Claude Jade nimmt lächelnd einen Flieger nach Rom („Jours de France“)

Vor den Abflügen nach Rio und Rom Anfang 1973: Claude Jade und Ehemann Bernard Coste beim Skiurlaub in Megève

Kurz nach ihrer Hochzeit im Dezember 72 und einem Skiurlaub in Megève fliegt Claude Jades Ehemann Bernard Coste zurück zu seinem Posten als Kulturattaché nach Rio. Claude besteigt Anfang 1973 den Flieger nach Rom, um zwei Filme zu drehen.
Bereits eineinhalb Jahre zuvor hatte sie in Rom Tests für Luigi Comencinis „Pinocchio“ (1972), doch die Rolle der Blauen Fee ging letztlich an  Gina Lollobrigida. Nun hatte der römische Anwalt Claudio Giglioli für Claudes Agentur zwei Filme gefunden: „Number One“ und „La ragazza di via Condotti“. Um Nützliches mit Angenehmem zu verbinden, bittet Claude ihre Mutter, die inzwischen Rentnerin ist, sie nach Rom zu begleiten: sie wohnen in einem Hotel an der via Sistina.

Sechs ihrer Filme waren bereits in den italienischen Kinos gelaufen.

Claude Jade in Gianni Buffardis „Number one“

NUMBER ONE

Italien 1973 Regie: Gianni Buffardi Buch: Gianni Buffardi, Alessandro Continenza Kamera: Roberto D’Ettorre Piazzoli Schnitt: Maurizio Mangosi Musik: Giancarlo Chiaramello Kostüme: Maurizio Millenotti Produzent: Gianni Buffardi Produktion: San Ignazio Cinematografica Erstaufführung: 28.05.1973 Restaurierung: Cineteca Nazionale, Cine34, infinty+ Wiederaufführung: 27.11. 2021 (Kino), 9.12. 2021 (TV), 17.01.2023 (DVD)
Darsteller:
Renzo Montagnani (Vinci), Luigi Pistilli (Capitano), Claude Jade (Sylvie Boisset), Guido Mannari (Massimo), Chris Avram (Benny), Venantino Venantini (Leo), Howard Ross (Dino), Paolo Malco (Teddy Garner Jr), Massimo Serato (Cattani), Isabelle de Valvert (Betsy), Bruno Di Luia (Pupo), Renato Turi (Commendatore), Rina Franchetti, Rita Calderoni, Andrea Scotti, Guido Lollobrigida, Paolo di Tusco, Andrea Aureli, Mario Prandi, Emilio Bonucci, Franca Scagnetti, Roberto D’Ettorre Piazzoli, Sergio Braci, Josiane Tanzilli, Raniero Dorascenzi, Eleonora Giorgi  u.a.

Rom. Eine Amerikanerin wird mit einer Überdosis Heroin tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Deren Freundin Sylvie (Claude Jade) bringt die Ermittler (Luigi Pistilli, Renzo Montagnani) auf die Spur von Kunsträubern aus dem Umfeld des Nachtclubs „Number One“ … Zynischer Blick auf die bösen Seiten Roms und des Dolce vita mit klaren Bezügen zu echten Ereignissen. Der Film verschwand schnell aus der Öffentlichkeit. 2021 wurde er restauriert und neu aufgeführt.

Guido Mannari und Claude Jade in „Number one“ von Gianni Buffardi

Der Filmproduzent Gianni Buffardi, bekannt auch als Playboy im Nachtleben an der via Veneto, gab mit diesem sehr persönlichen Kriminaldrama sein Debüt als Regisseur.
Buffardi hatte in seiner Ehe mit Liliana De Curtis, Tochter des Komikers Totó, begonnen, Filme seines Schwiegervaters zu produzieren. Buffardi zählte hohe Amtsträger und Kriminelle, Verleger und Filmstars, Regisseure und Politiker zu seinen Freunden  – und war zudem ein fester Informant auf den Polizeirevieren.
Buffardi hatte erheblich dazu beigetragen, dass ein großer Kunstraubhandel im Umfeld des berühmten Nachtclubs „Numer One“ aufflog und war wohl auch selbst in in einen Fall von Kunstraub verwickelt, so nachzulesen in Hugh McLeaves „Rogues in the Gallery“ (S. 115-118).
Mit seinem Film bringt Buffardi – sechs Jahre vor seinem Tod durch eine Infektion nach einem Bad im Tiber – diesen Skandal um den legendären Nachtclub „Number one“ auf die Leinwand. Als Kriminalfilm beginnend, wird der Film zum Politdrama um eine Verschwörung, sehr nah an realen Ereignissen orientiert.

Luigi Pistilli als Capitano und Claude Jade als Sylvie Boisset in „Number one“

Buffardi hatte eine solide Besetzung engagiert: Neben Renzo Montagnani und Luigi Pistilli als Ermittler spielen bekannte Schauspieler hinter fiktiven Rollen einige der bekanntesten Vertreter des Jestsets in Rom. Chris Avram als Benny und  Venantino Venantini als Leo (beide rechts im Aushangfoto) sind Anspielungen auf die Playboys Pier Luigi Torri und Paolo Vassallo. Ein an einem See hingerichtetes Pärchen ist die filmische Entsprechung des Models und Filmsternchens Tiffany Hoyveld und ihres italienischen Freundes Giuliano Carabei, die im Dezember 1971 am Lago di Martignano erschossen wurden. Im Film heißen sie Betsy (Isabelle de Valvert) und Massimo (Guido Mannari).  Debütant Paolo Malco als Teddy Garner Jr. ist Buffardis Double für John Paul Getty Jr, dessen Frau Talitha Getty – im Film Deborah Garner – im Sommer 1971 tot aufgefunden wurde.

Ein Jahr nach der kurzen Aufführung des Films schließt Roms berühmter Nachtclub „Number one“ nach einem weiteren Skandal. Möglicherweise hat dieser Film, der als Zeitdokument ausgeht von wirklichen Orten, von Fakten wie dem Kunstraub, ein Thriller zwischen Fiktion und Wirklichkeit, einige Menschen verstört, die sich wiedererkannten. Denn dieser Film verschwand aus der Öffentlichkeit und fand auch kaum Besprechungen. Eine der raren Kritiken im Segnalaconi Cinematografiche urteilte 1973 hart über den sicher engagierten Film: „Eine Geschichte ohne Sinn und Verstand, vage von Tatsachen inspiriert, in zerzaustem Rhythmus, voller amoralischer Charaktere  mit vulgärer Ausdrucksweise. Der Film funktioniert weder als Portrait einer schlechten Welt noch als reines Schauspiel“. So verschwand ein pessimistischer und etwas verwirrender Film, der nicht das sonnige Rom sondern die düstere Seite des Dolce Vita zeigte.
2021 tauchten in einem Lagerhaus Negative auf. Die Cineteca Nazionale rekonstruiert den Film, der Ende 2021 seine Wiederaufführung im Kino auf dem International Filmfestival Torino und seine Premiere im Fernsehen erlebt.

Claude Jade als Fotomodell im italienischen „Oggi“. In „Number One“ spielt sie das Fotomodell Sylvie Boisset.

Das italienische Magazin „Oggi“ bringt 1973 Fotos mit Claude Jade als Fotomodell in Nachtwäsche im Wandel der Zeit. Im Film bleibt Claude Jade als Model und Schauspielerin Sylvie Boisset züchtig. Sie  schreibt in ihren Memoiren: „Es ging um einen Skandal in einem Nachtclub mit Call-Girls. Dies war aber nicht gerade die Rolle, die ich spielte! Ich glaube, ich war eine Art Ermittlerin oder ähnliches. Ich fragte mich nur, warum Giglioli diese Rolle für mich gefunden hatte.“ Der polnische „Ekran“ berichtet im Artikel „Claude Jade we Włoszech“, sie spiele eine französische Schauspielerin, die als Informantin für die Polizei arbeitet. Tatsächlich kann die von Claude Jade gespielte Sylvie kann den Karabinieri entscheidende Hinweise zu den Gemäldediebstählen und einem weiteren Kriminalfall geben.

 

Kostümbildner für Claude Jade und ihre Kollegen bei „Number one“ war Maurizio Millenotti. Er erhielt zweimal den David di Donatello, fünfmal den Nastro d’Argento und war zweimal für Shakespeare-Verfilmungen von Franco Zeffirelli für den Oscar nominiert. Zu seinen Arbeiten zählen Fellinis „Stadt der Frauen“, „Otello“, „Hamlet“, „Die Stimme des Mondes“, „Die Legende vom Ozeanpianisten“, „Ernst sein ist alles“, „Der Zauber von Maléna“, „Die Passion Christi“ und „The Best Offer“.

Benny (Chris Avram), der Anwalt, Sylvie Boisset (Claude Jade)

Claude Jade spielt im Ensemble von etwa einem Dutzend wichtiger Figuren eine der fünf Hauptollen. Auf den Vorspann, der Zeitungsartikel im Zusammenhang mit Kriminalfällen aus dem Umfeld des „Number one“ zeigt und Fotos vom Jetset in jenem Nachtclub – Gina Lollobrigida, Pier Luigi Torri und Marisa Mell, Brigitte Bardot, Helmut Berger, Elizabeth Taylor und Richard Burton,  Jackie Kennedy und Aristoteles Onassis – folgt die Einführung in eine Nacht im „Number one“.

Venantino Venantini, Massimo Serato, Renato Turi, Claude Jade und Chris Avram im „Number one“

Es ist jener Club, in dem sich der Jetset unverholen mit Kriminellen abgibt. Unter Blitzlichtgewitter betritt Fotoagentur-Chef Benny (Chris Avram) den Club. Er begrüßt sogleich Sylvie (Claude Jade), die wie Benny einige Figuren beobachtet, die geheime Telefonate oder nicht verständliche Gespräche führen: der Verleger (Massimo Serato) ebenso wie Clubbesitzer Leo (Venantino Venantini). Wir lernen ebenfalls einen Anwalt kennen und einen Geschäftsmann, den Boss, genannt „Commenda“ (Renato Turi).

Die in Rotlicht gezeigte Stimmung ist bei diesen Figuren angespannt und lauernd. Sie stehen im Kontrast zu den Gästen, die sich unter der Instrumentalversion von Stevie Wonders „Superstition“ dem Rausch hingeben: zwei knutschende Frauen, ein Pärchen, das sich Kokain zustecken lässt und Callgirls, unter ihnen als Edelkomparsin die 19jährige Eleonora Giorgi kurz vor ihrer ersten Hauptrolle in der Erotikschmonzette „Der Nonnenspiegel“. Hier schmiegt sie sich giggelnd an den Commenda und in einer späteren Rückblende an ein Opfer, den Onkel des Prinzen Rudy. Die vierminütige Szene zur Einführung der wichtigsten Charaktere endet mit einer Großaufnahme von Claude Jade.

Anschließend wird im Morgengrauen aus einer Villa die Amerikanerin Deborah Garner (Josiane Tanzilli) mit einem Krankenwagen abtransportiert. Sie ist tot. Der aufgelöste Witwer Teddy Garner Jr. (Paolo Malco) wird von seinen zwei Freunden Massimo (Guido Mannari) und Dino (Howard Ross) aufgefordert das Land zu verlassen, denn es sei nicht sicher, ob ein Selbstmord mit Schlaftabletten als offizielle Todesursache Bestand hätte.  So ist Deborahs Freundin Sylvie der einzige Gast der Beisetzung auf einem Friedhof in Rom. Der Polizei fällt auf, dass keiner der zahlreichen anderen Freunde kam und dass die in Rom lebende Schauspielerin Sylvie Boisset befragt werden müsse.

Sylvie Boisset (Claude Jade) geht als einzige der vielen Freunde zu Deborahs Beerdigung.

Sein Assistent verrät Kommissar Vinci, dass Sylvie eine jener ausländischen Schauspielerinnen sei, die nach Rom kämen und dann enden würde als … „als käufliche Hure“ beendet Vinci den Satz.
Aus einer Bar ruft gerade jene Sylvie bei den Karabinieri an und macht in einer stammelnden Mischung aus Französisch und Italienisch eine anonyme Anzeige. Sie wisse den Ort, an dem die Gemälde aus einem kürzlichen Kunstraub zu finden sei. Weitere Angaben wolle sie nicht machen und nennt das Kloster Convento di Monte Renzo, bevor sie auflegt und die Bar verlässt. Die italienische Synchronstimme von Claude Jade mutet leider etwas komisch an.

Es ist der permenante Wechsel von Französisch und Italienisch im Wiederholen von gesuchten Worten, die Verwirrtheit und Angst von Sylvie verdoppelnd, so dass die Dialoge immer etwas ausgestellt Hilfloses betonen.
Kurz gestreifte Nebenfiguren beschreiben Sylvie: Der Barmann aus dem Café, der ihr nachruft, „Signorina, Mademoiselle, ihr Kaffee“, meint gegenüber einem Gast, diese Schönheit stünde wohl unter Drogen. Sie wohne in der Nähe und eines Tages würde er sie ins Bett bekommen. Die Nachbarin sagt dem Kommissar, sie würde täglich Sylvies Wohnung putzen, aber sie sei nie zu Hause und treibe sich herum. Sie wisse, sie sei Französin und könne sie sowas nicht im eigenen Land tun?

Sylvie (Claude Jade) hat den Karabinieri das Versteck des Kunstraubs genannt: Das Kloster Convento di Monte Renzo.

Sylvie (Claude Jade) sieht Kommissar Vinci (Renzo Montagnani), der ihre Nachbarin über sie ausfragt.

Die Unterhaltung zwischen Kommissar Vinci und ihrer Nachbarin belauscht Sylvie im Treppenhaus zu ihrem Appertement, bevor sie rasch die Treppen hinunter und aus dem Haus eilt. Um sogleich unter dem ausklingenden schnellen Tempo von Giancarlo Chiaramellos Musik bei Massimo aufzutauchen, jenem Mann, der Teddy Garner riet, das Land zu verlassen.

Sylvie (Claude Jade) eilt zu Massimo (Guido Mannari). Der Fotograf lebt mit Model Betsy (Isabelle de Valvert)

Aufgelöst berichtet sie ihm, dass die Polizei bei ihr war und sie Angst hätte. Im Dialog von Alessandro Continenza muss Sylvie nach Worten suchen: „J’ai peur. Io ho paura.“ Angst vor einem Verhör zu Deborahs Tod und sie wisse nicht, was sie sagen solle. Ein solches Verhalten könnte sie alle in große Schwierigkeiten bringen, warnt Massimo.

Er will die aufgeregte Sylvie beruhigen: „Wenn die Polizei dich fragt, sag ihnen das, was in der Zeitung steht.“ Nichts von den Drogen in ihr dürfe erwähnt werden, sie müsse die Theorie des Suizid mit Nebmutal bestätigen. Sylvie erklärt ihm unter Tränen, dass es vielleicht nicht seine Schuld sei, aber sie könnten doch so nicht weitermachen, Augen und Ohren davor zu verschließen, dass jemand so stirbt. Schließlich sei Deborah nicht das erste Opfer, auch ein gewisser Rudy sei so gestorben. Die Kamera von Roberto D’Ettore Piazzoli ist dabei in ständiger Bewegung, umkreist die Schauspieler, zoomt heran und weg und führt so nebenbei Massimos Freundin Betsy ein, die er zweimal kurz und dabei barbusig auftauchen lässt.

Für Isabelle de Valvert ist die Betsy ihre erste Filmrolle. Claude Jades intensiver emotionaler Ausbruch und Guido Mannaris kalte Berechnung werden kurz gebrochen, als Sylvie ihm verrät, dass sie den Karabinieri von dem Kunstraub berichtet hätte. Sie habe nichts weiter gesagt. Auf Massimos entsetzte Frage, ob er sie ins Gefängnis bringen wolle, sagt sie „Nein, nicht dich. Es ist Benny, den ich zerstören will.“ Auf Massimos Einwand, Benny sei unschuldiger als sie alle, wechselt ihre Angst in Empörung – und perfektes Italienisch: „Wer glaubst du, hat Rudy getötet?“ Der Wechsel zeigt zugleich eine selbstsichere Sylvie: „Nein, ich weiß, er ist derjenige, der Rudy von den Gemälden überzeugt hat. Er kam nach dem Raub zu mir.“

Sylvies Wohnung ist eine Arbeit des Architekten Giuliano Pallai. Szene aus „Number one“ mit Claude Jade und Chris Avram.

In einer Rückblende, in der Roberto D’Ettorre Piazollis Kameras die beiden Schauspieler Claude Jade und Chris Avram umkreist, so dass Avrams Benny lauernd und bedrohlich hinter Sylvie auftaucht und verschwindet, schildert sie nun ihre Sicht auf die Nacht des Kunstraubs.
Aus dem Schlaf geklingelt, öffnet sie Benny und entzieht sich seinem Streicheln. Benny will telefonieren. Er habe dem Prinzen Rudy Sylvies Nummer gegeben, um Abhörmaßnahmen zu vermeiden. Sylvie erklärt Benny, dass sie nichts damit zu tun habe wolle, doch Benny erpresst seine Freundin: „Denk daran, ein Anruf bei der Polizei genügt, dich nach Frankreich ausweisen zu lassen.“ Sie müsse ihm einfach nur vertrauen und sich benehmen.

Claude Jade umkreist von Roberto D’Ettorre Piazzolis Kamera und belauert von Chris Avram. Szene aus Gianni Buffardis „Number one“

„Sei süß und hübsch, wie du früher immer warst und immer noch bist, egal mit dem du schläfst“, bittet Benny Sylvie.
Dabei streichelt er sie, greift ihr unter das Nachthemd an den Oberschenkel, bevor sich Sylvie aus seinem Griff windet und ihn zurückstößt: „Lass mich.“
Und dann berichtet Sylvie von dem Telefonat Bennys mit Prinz Rudy, der Angst davor hat, dass sein Onkel nicht mitspielen würde. Doch der Boss, der Commenda, so Benny, habe genug Geld, alle Probleme zu lösen, so dass Rudy beim Kredithai keine Schulden mehr habe.
Nach und nach werden weitere Rückblenden den Fall des Kunstraubs, der Erpressung und den Fall Deborah enthüllen.


Rudy wird zu einem Angelpunkt, auch wenn er nur beim Telefonat aus Sylvies Bericht kurz zu sehen ist. Denn sein Tod ist Auslöser für weitere Ermittlungen und Rückblenden. So berichtet Benny später dem Commenda, wie der Onkel des Prinzen Rudy zu Tode kam, indem er von einem Auto überfahren wurde – ein Mord, den Sylvie in ihrem Streit mit Massimo bereits vorwegnimmt: „Rudy wusste, dass der Onkel ermordet würde.“ Und es bleibt ein Fall, der im Sande verlaufen wird, da auch die alte Principessa (Rina Franchetti) keine Klärung der beiden Todesfälle in ihrer Adelsfamilie wünscht, um den Namen der Familie rein zu halten. So wird der Titel „Number one“ auch zur Suche nach der „Nummer eins“ hinter all den Verbrechen.

Die Struktur des Films bleibt absichtlich verwirrend. Massimo Schiavoni schreibt nach der Wiederaufführung: „Die narrative Struktur ist so unzusammenhängend und vielgestaltig, und er vertraut auf einen nonchalanten Gebrauch der Rückblende, dass er paradoxerweise Zerlegungen und Neuzusammensetzungen zulässt, ohne dass man den Unterschied spürt. Buffardi scheint ein unentwirrbares und unentzifferbares Geflecht erzählen zu wollen, in dem das System des Staates völlig in einem Abgrund von Korruption, Verderben und Misswirtschaft versinkt. Die Geschichte als Ganzes wird immer undurchschaubarer und dreht sich um die wechselnden Interessen einer Vielzahl von Figuren, die alle in dieselben Missetaten verwickelt sind.“

Sylvies Interesse ist es, sich den Erpressungen Bennys und der drohenden Abschiebung zu entziehen, Massimo will das schnelle Geld machen, zu dem er es als kleiner Mode-Fotograf nicht brachte und deshalb bei Drogendeals und Kunstraub mitmischt.
Folgerichtig erzählt Massimo nun wiederum Sylvie seine Geschichte des Abends, die darauf hinausläuft, dass es nur zwei Mitskerle gibt, die mit jedem spielten: Der Boss „Commenda“ und Clubbesitzer Leo. Vor ihnen müsse man sich in Acht nehmen, denn sie hätten die Ermordung des Prinzen und seines Onkels veranlasst. Er rät Sylvie, mehr Benny zu vetrauen: „Wenigstens würde er mich nicht umbringen.“

Guido Mannari als Massimo und Claude Jade als Sylvie Boisset in Gianni Buffardis „Number one“

Der Film verlässt die beiden bisherigen Protagnisten und zeigt nun die Drahtzieher, deren Handlanger ein windiger rundlicher Anwalt ist, der einen Staffellauf zwischen dem Kommissar und weiteren Verdächtigen absolviert. Der names des Anwalt-Darstellern ist derzeit nicht bekannt. Er könnte einem alten Filmplakat nach Paolo di Tusco heißen, der sonst laut IMDb in keinem weiteren Film spielte, doch 48 Jahre nach Entstehung des Films erinnert sich auch Kameramann Roberto D’Ettorre Piazzoli nicht an seinen Namen. Und eine vollständige Besetzungsliste liegt der Cineteca Nazionale, die die Restaurierung des Films unter Piazzolis Mitarbeit ermöglichte, nicht vor. Es war möglicherweise ein schauspielerisch begabter Kunsthändler, der als Laie sein Schauspieldebut bei seinem Freund Gianni Buffardi gab.

Im erst bedrohlichen und dann pessimistischen Grundton des Films wirkt dieser Darsteller beabsichtigt komisch, wie ein böses Klischee des windigen Winkeladvokaten, verlogen, freundlich, feist und glatt. Oder es war Buffardis Absicht für jene Figur: ein Komiker zwischen den sonst ernsten Schauspielern. Claude Jades sehr nuanciertes Spiel verleiht Sylvie Ambivalenz und macht sie doch zur einzigen Sympathieträgerin neben den beiden Ermittlern, von denen der zweite, Luigi Pistilli als Capitano, erst nach einer Dreiviertel Stunde auftaucht. Denn der Capitano ist – im Off – Sylvies Hinweis gefolgt und hat im Kloster den Prior abführen lassen, während andere Karabinieri die geraubten Gemälde über den Kreuzgang hinaustragen. Dazwischen führt Buffardi neben Dino einen weiteren Gauner aus Massimos Umfeld ein: Pupo (Bruno Di Luia), der im Auftrag des Kredithais einen Kreditschuldner (Andrea Scotti) verprügelt und dessen Frau (Rita Calderoni) vergewaltigt, half ebenfalls beim Kunstraub.

Luigi Pistilli und Claude Jade in Gianni Buffardis „Number one“

Zum Kunstraub will sich Sylvie nicht mehr äußern, als sie den Capitano aufsucht – und Claude Jade wieder in einem etwas lächerlichen Wechsel aus Französisch und Italienisch sprechen muss – oder besser: synchronisiert wird – der überdeutlich machen soll, wie verunsichert Sylvie wieder ist. Oder ihr, so Alessandro Continenza es in seinen Dialogen beabsichtigt hat, beim Lügen die Worte der Fremdsprache schwerer fallen, wie es bei Jane Birkins Louise Bourget in der 1978er Agatha-Christie-Verfilmung „Tod auf dem Nil“ der Fall ist, einer Zeugin, die sich im Verhör ähnlich ungeschickt anstellt wie Claude Jades Sylvie Boisset. Nein, sie habe nicht mit den Karabinieri telefoniert und könne sich nicht zu einem Kunstraub äußern.

Sie sei aus einem anderen Grund bei ihm: Da sie bereits vier Tage nichts von Massimo gehört habe, sei sie ihn Sorge um ihn und habe wichtige Aussagen zum angeblichen Selbstmord einer Freundin, Deborah Garner.
Sylvie weiß nicht, dass auch Massimo im Auftrag von „Number one“ ermordet und sein Tod in der Zeitung als erweiterter Suizid veröffentlicht wird. Als Massimo Schweigegeld verlangt, um mit Betsy in die Schweiz zu fliehen, macht er am Lago di Matignano einige Model-Fotos von Betsy, als die beiden plötzlich mit Schüssen hingerichtet werden.
Offiziell wird es heißen, Massimo habe sich und Betsy erschossen. Die Parallele zum Fall Tiffany Hoyveld und Giuliano Carabei ist in der Wahl der dunkelhäutigen Schauspielerin Isabelle de Valvert für Tiffanys Stellevrtreterin Betsy und der des Tatorts überdeutlich. Und so wird auch der Fall um John Paul Gettys Frau, It-Girl der Swinging Sixties, Fotomodell und Starlet, in der Aussage Sylvies in einem neuen Licht dargestellt, das nach Buffardi der Wahrheit entsprechen könnte. Dabei weint und zittert Sylvie erneut, doch nun aus weitaus stärkerer Angst.

Als der Capitano der zitternden Sylvie die Zigarette anzündet, kann sie nur einmal nervös daran ziehen, um dann weinend zu gestehen: „Ich habe Angst vor allen und vertraue niemandem mehr, nicht einmal Ihnen!“. Wie bereits in der ersten Rückblende zoomt die Großaufnahme von Claude Jades Gesicht auf ihre Augen und unter Sylvies Bericht zur Nacht des Todes zeigt Buffardi mit Sylvies Schilderung auch seine Sicht. Teddy kommt mit Dino und Massimo heim, wo die sterbende Deborah nach einer Überdosis Heroin auf dem Bett liegt: nackt, sich wälzend, an den Hals greifend, weißer Schaum kommt immer wieder aus ihrem Mund.  Die Männer entscheiden sich, Karten zu spielen, bis Deborahs Todeskampf vorbei ist.

Sylvie (Claude Jade) berichtet von der Nacht von Deborahs Tod (Guido Mannari als Massimo, Josiane Tanzilli als Deborah, Howard Ross als Dino und Paolo Malco als Teddy)

Die grausame Szene ist so nah an der Wirklichkeit und deshalb fragwürdig spekulativ, denn Talitha Pol-Getty kam am 9.  Juli 1971 nach Rom, um mit ihrem Mann die Scheidung zu besprechen und war bereits drei Tage nach ihrer Ankunft tot aufgefunden worden. Um Verhöre zu vermeiden, verließ Getty verließ Italien und kehrte nie wieder zurück, wie im Film Teddy Garner.
Nach dieser Schilderung fleht Sylvie den Capitano an, ihren Namen herauszuhalten. „Ist Ihnen klar, was Ihre Aussage bedeutet?“, weiß der Capitano. Er dankt ihr und rät ihr, nach Hause zu gehen und sich zur Verfügung zu halten.

Luigi Pistilli als Capitano und Claude Jade als Sylvie Boisset in Gianni Buffardis „Number one“

Er lässt Dino verhaften, doch der landet nur wegen Kokainbesitzes im Gefängnis. Erst danach versucht der Capitano Sylvie zu erreichen, doch weder jemand in Rom noch ihre Mutter in Frankreich weiß, wo sie ist. Hier treibt Buffardi seinen Zynismus auf die Spitze auch zu Lasten der Glaubwürdigkeit der Entscheidung des Capitano, der nun erst Sylvie suchen lässt und zu seinem Ermittlungspartner Vinci sagt: „Hätte ich sie doch verhaften lassen.“ Sie habe eine Höllenangst, sagt der Capitano, bevor Buffardi Sylvie zeigt, die in Rom in der Via Guilia unterwegs ist. Ein Auto hält, Pupo springt heraus, schlägt sie bewusstlos und verfrachet sie in das Auto, das mit der Entführten davonrast.

Wir sehen nicht, was dann mit Sylvie passiert. Später soll Benny eine Leiche identifizieren und er kann gegenüber dem Capitano nicht bestätigen, dass es Sylvie ist. Der Capitano erwidert, ihn interessiere nur der Verbleib von Sylvie Boisset. Doch Buffardi wirft dem Zuschauer ein Indiz hin: Die Tote hatte am Oberschenkel Leberflecke wie Sylvie in der Rückblende zu der Nacht von Bennys Besuch. Und kurz darauf geht in einem Nachtclub eine Bombe hoch. Buffardi erlaubt nur Schlüsse in seinem Verwirrspiel, denn die Verbrechen werden nie geklärt.
Zwei Jahre nach Damiano Damianis  „Das Geständnis eines Polizeikommissars vor dem Staatsanwalt der Republik“, der in der BRD den griffigeren Titel „Der Clan, der seine Feinde lebendig einmauert“ erhielt, lässt Buffardi wie bei Damiani die Zeugen in den Ermittlung gegen wichtige Würdenträger verschwinden: bei Damiani ist es am Ende Marilù Tolo, die als Hauptzeugin Serena Li Puma überfallen und dann in das Fundament eines Naubaus eingemauert wird. Und wie bei Damiani lässt Buffardi seinem Publikum keinen Hauch von Hoffnung. Dies zeigt sich über das Verschwinden von Claude Jades Sylvie besonders im Gesicht von Luigi Pistilli, der sagt, „Ich hätte sie retten können.“

Kurz darauf – Pupo und seine drei Kumpane wurden inzwischen beim Flanieren erschossen – lassen Vinci und der Capitano Deborahs Sarg öffnen, um die Leiche erneut zu untersuchen. Vinci ist zornig, dass er die Wahrheit kenne, aber keinen einzigen Beweis hätte. Und der Capitano entgegnet: „Ein Richter sagte einmal, dass es in einer Demokratie besser ist, wenn zehn Schuldige frei sind als ein Unschuldiger im Gefängnis.“ und fügt mit einem Schulterzucken hinzu: „Seine Worte.“ Enttäuscht sagt Vinci: „In unserem Fall ist die Demokratie also gerettet.“  Diesem pessimistischen Satz folgen in Gegenschnitten der Transport von Deborah Garners Sarg bis zum Leichenschauhaus und einer Party im Rotlicht des „Number one“, wo die Verdächtigen weiterhin feiern, unangreifbar.

Claude Jade, Chris Avram, Gianni Buffardi

Claude Jade ist nicht sehr glücklich mit Gigliolis Vermittlung zu diesem Film. 1988 schrieb sie mir, sie könne sich nicht mehr gut an den Film erinnern. In ihren Memoiren schildert sie, dass sie sich Anfang 1973 fragte, was sie in diesem Nachtclub zu suchen hat, zwischen grell geschminkten Mädchen, die sie nicht kennt. Während Maman, eine Protestantin, begeistert eine Papstaudienz besucht und hernach die Museen und Kirchen, ist Claude zum Dreh im „Number One“ eingespannt. Dass sie in einem Interview erklärt hatte, sich in Nachtclubs „zu Tode zu langweilen“, dürfte Gianni Buffardi weniger interessiert haben als ihr bekanntes Gesicht auf seinen Filmplakaten. Claude Jade schreibt in ihren Erinnerungen: „Gianni Buffardi hatte sehr schöne Büros und sammelte Kunstwerke, aber er war auch ein Gauner und ich bin nicht voll bezahlt worden. Mein Pseudo-Agent, der sein Kumpel war und seine Interessen vertrat, tat nichts für mich; ich vermied es, gegen ihn zu klagen.“
Mehrfach sind Claude und ihre Mutter in Rom mit dem ebenfalls dort drehenden Schauspieler Jacques Dufilho zum Essen. Er macht sie mit Francesca Saxon-Mills bekannt, einer jungen Frau, die sie von nun an anstelle Gigliolis vertritt.

2021 restauriert die Cineteca Nazinale des Centro Sperimentale di Cinematografia unter Mitarbeit des damaligen Kameramanns Roberto D’Ettore Piazzoli und Buffardis Sohn Antonello Buffardi den Film. Die Restaurierung erfolgte in Zusammenarbeit mitCine34, RTI-Mediaset und Infinity+. Luca Pallanch von der Cineteca Nazionale erklärt: „Das gute Rom, etwas früher von Carlo Lizzani erzählt, und das schlechte Rom, gemalt von Gianni Buffardi, sind zwei Seiten derselben Medaille, die nun nicht nur Cinephilen, sondern auch Erforschern italienischer Geschichte geboten wird.“

Kameramann Roberto D’Ettorre Piazzoli überwachte die Restaurierung. Im Film spielte er einen Kunsthändler, links mit Gianni Buffardi als Kunstfälscher. „Numer one“ war nach Assistenzen seine zweite Arbeit als leitender Kamermann. Später drehte er unter dem Pseudonym Robert Barrett als Co-Regisseur „Der letzte Schnee des Frühlings“ mit Bekim Fehmiu und Agostina Belli, „Wer bist du?“ mit Juliet Mills und „Laure“ mit Al Cliver.

Auf dem 39. Torino Film Festival 2021 wurde „Number One“ in der Sektion „Back to Life“ dreimal gezeigt: am 27. November um 11:00 Uhr, am 29. November um 17:30 und am 30. November um 12:00 . Nach der Vorpremiere am 27. November gab es am 29. November eine Präsentation in Anwesenheit von Antonello Buffardi De Curtis, Kameramann Roberto D’Ettorre Piazzoli, dem Journalisten, Filmkritiker und Essayisten Alberto Anile, seit Januar 2021 Kurator des Nationalen Filmarchivs des Centro Sperimentale di Cinematografia und Marta Donzelli, Filmproduzentin und seit März 2021 Präsidentin des Centro Sperimentale di Cinematografia. Hier der Link zur Restaurierung von „Number One
Der Sender Cine 34 von Mediaset ermöglichte dem Film am 9. Dezember 2021 seine Fernseh-Weltpremiere.
Link zum Filmfestival: Numer One (1973) auf dem 39. Torino Film Festival 2021

 

 


2023 erschien bei Mustang die DVD
https://www.dvd-store.it/Video/DVD-Video/ID-79491/Number-one

 

Copyright Screenshots  CSC / CN / Cine34


LA RAGAZZA DI VIA CONDOTTI

La ragazza di via Condotti, La chica de via condotti, Meurtres à Rome, le crime de la via condotti, German Lorente, Frederick Stafford, Femi Benussi, Claude Jade, Alberto de Mendoza, Michel Constantin, patty Shepard, Simon Andreu, Manuel de Blas, film, German LorenteLa ragazza di via Condotti
Italien/Spanien/Frankreich 1973 Regie: Germán Lorente Buch: German Lorente, Adriano Asti, Miguel De Echarri Kamera: Mario Capriotti Musik: Enrico Simonetti Schnitt: Giancarlo Capelli Ausstattung: Santiago Otanon Kostüme: Mario Giorsi Produktion: Midega Film, Zafes, Mandala Film Englischer Titel: Special Killers Spanischer Titel: La chica de via Condotti Französische Titel: Meurtres à Rome / Le crime de la via Condotti. Erstaufführung Rom: 08.11.1973, Madrid: 10.04.1974, Paris: 12.07.1977
Darsteller:
Frederick Stafford (Sandro), Femi Benussi (Laura), Claude Jade (Tiffany), Alberto de Mendoza (Girgio Russo), Michel Constantin (Palma), Simón Andreu (Mario), Manuel de Blas (Bertoni), Patty Shepard (Simone), Giuseppe Castellano (Broccole), Dada Gallotti (Gina Necioni), Pupo De Luca, Antonio Gradoli, Giacomo Furia, Antonio Basile, Nino Musco, Arturo Dominici, Raimondo Toscano, Carla Mancini, Christine Tambay, Geneviève Menet, Eva Maria Gabrielli, Pietro Torrisi, Edith Genella, Alessandro Perella, Nestore Cavaricci u.a.

Nach dem Mord an seiner Frau kommt Privatdetektiv Sandro mit Hilfe der Fotografin Tiffany auf die Spur der Stripperin und Boutique-Besitzerin Laura Damiani. Sandro und Tiffany observieren die Geliebte des einflussreichen Anwalts Russo, doch alsbald verliebt sich Sandro in Laura…
In der Mischung aus Giallo und Krimi-Drama spielt Claude Jade vier Jahre nach Hitchcocks „Topas“ erneut an der Seite Frederick Staffords.

Claude Jade küsst vier Jahre nach „Topas“ ihren einstigen Filmvater Frederick Stafford

Claude Jade und Frederick Stafford zu Beginn des Films

Der heftige Streit mit seiner drogen- und alkoholabhängigen Ehefrau Simone (Patty Shepard) endet damit, dass Sandro (Frederick Stafford) ihr eine Ohrfeige gibt. Als er geht, lacht sie ihn aus. Sandro besucht seine gut vertraute Freundin, die junge amerikanische Fotografin Tiffany (Claude Jade). Er schnorrt auf ihrer Terrasse eine Zigarette und klagt ihr sein Eheleid. Tiffany kann ihn beruhigen und gibt ihm ein Küsschen. Heftiger geht es nun bei Simone zu. Sie hat wieder einen Liebhaber im Ehebett, teilt sich mit dem jungen Kerl, der nur von hinten oder oben zu sehen ist, während des Beischlafs eine Pulle Wein. Der Liebhaber legt ihr die Hände um den Hals – und beginnt, sie zu erdrosseln. Die Kamera fährt an die Frau im Todeskampf heran und über dem plötzlich einfrierenden Standbild der Toten beginnt zu einem wunderschönen Song, dem von Augusto Daolio gesungenen „Una ragazza come tante“, der Vorspann.

Bereits während ihres zweiten Auftritts stirbt Horror-Ikone Patty Shepard im Vorspann zu „La ragazza di via Condotti“

„La ragazza di via Condotti“ beginnt wie ein typischer Giallo. Und Germán Lorente gibt sich Mühe mit der Farbdramaturgie: Am Tatort, an dem gelbe Tulpen aus einer Vase ins Bild ragen, ruft Sandro mit einem gelben Telefon die Polizei; das Auto, aus dem Frederick Stafford und Claude Jade kurz darauf ein Grundstück observieren, ist knallgelb. Und später trägt Claude Jade eine gelbe Bluse zu ihren Jeans.

Claude Jade, Frederick Stafford, La ragazza di via Condotti, La chica de via Condotti, Meurtres à RomeClaude Jade ist nicht die femme fatale; Tiffany bleibt die zuverlässige Vertraute des Helden. Sie ist in ihn verliebt, doch die Liebe bleibt unerwidert wie bei Midge (Barbara Bel Geddes), der Freundin des Detektivs (James Stewart) in Hitchcocks „Vertigo“. (Variationen der Midge sind bei Hitchcock auch die Annie in „The Birds“ und die Lil in „Marnie“.) Der Held könnte mit ihr glücklich werden, doch er verfällt der femme fatale, die ihn am Ende fallen lässt.
„Du siehst immer die guten Seiten an einer Sache, Tiffany“, sagt Sandro seiner Freundin, die durchaus seine Tochter sein könnte. Er wurde gerade überfallen, als er sich bei ihr mit einer rosa Wärmflasche (siehe Screenshots links) erholt. Dabei legt er ihr eine Hand auf ihr Knie, was sie verliebt lächelnd genießt.
Sandro und Tiffany haben keine Zeit für eine Romanze, denn der Detektiv will den Mörder seiner Frau finden. Weshalb, bleibt unklar, denn als er die Tote fand, entfuhr ihm ein „Poor little bitch.“

Sandro hat seine Frau nicht geliebt, will jedoch den Mann finden, der auf einem Foto zu sehen ist, das er neben dem Bett der Toten findet: sein Gesicht ist unter einem Motorradhelm verborgen. Ausgerechnet Tiffany bringt ihn auf die Spur des Vamps Laura Damiani.
In einer atmosphärisch schönen, giallo-typischen Szene in der Dunkelkammer, unterlegt mit psychedelischem Jazz-Rock,  erkennt Tiffany beim mehrfachen Vergrößern des Fotos im Hintergrund eine Brünette mit Sonnenbrille: „Ich kenne sie. Das ist Laura Damiani !“
Und wieder ist es Tiffany, die ihn der Dame noch näher bringt: sie führt ihn in einen Nachtclub Roms, wo Laura als Striptease-Tänzerin auftritt. Zu Claude Jades Glück ist dieser nicht schon wieder das „Number One“.

Femi Benussi als Striptease-Tänzerin Laura und Claude Jade als Fotografin Tiffany

Claude Jade, Frederick Stafford, Femi Benussi, La ragazza di via via Condotti, Meurtres à Rome, German Lorente, 1973Ihr erster Auftritt zeigt die brünette Laura mit einer roten Lockenperücke und auch Tiffany hat sich verändert: mit einer Haarverlängerung, nun sieht Claude Jade aus wie drei Jahre zuvor in Truffauts „Tisch und Bett“, wird aus dem burschikosen Mädchen eine elegante junge Dame.
Die Observierung wird auch zu einem Beobachten zwischen den Ermittlern Claude Jade und Frederick Stafford. Beide mustern sich gegenseitig während des Striptease und es scheint, als fände Sandro Gefallen an der Veränderung seiner vertrauten Tiffany.

„Ein Mädchen kann ihr Aussehen durch ihre Haare verändern, aber ich erkenne sie“, erklärt die veränderte Tiffany und dabei zeigt Claude Jade auf ihr eigenes Gesicht. Während sie von Lauras Lippen spricht, streicht sie beiläufig über die eigenen. Claude Jade spielt dies in eleganter Diskretion.

Claude Jade, giallo, ragazza di via condotti, chica de via condotti, crime de la via condotti, meurtres à rome, Tiffany, film, italie, 1973Claude Jade, giallo, ragazza di via condotti, chica de via condotti, crime de la via condotti, meurtres à rome, Tiffany, film, italie, 1973Im Nachtclub erfährt Sandro von Tiffany viel über diesen nackten Vamp – dass sie Mannequin für Valentino war und so den Fuß in die feine Gesellschaft bekam und nun mit dem einflussreichen Anwalt Russo liiert ist. Amüsiert, doch ohne Hohn, belächelt Claude Jade diese Welt der Reichen.

Ihre Distanz zu Lauras Welt spielt Claude Jade als Tiffany aus dem Herzen. Mädchen der feinen Gesellschaft kannte Claude Jade bereits mit 17 am „Cours Nadaud“ in Draveil; Schnepfen, die sich über ihre Hermès-Taschen und teuren Pullis auszeichneten (siehe dritter Absatz im Artikel „Gut behütet“).

Während Sandro und Tiffany im Restaurant Laura (Femi Benussi) observieren, hat ein Killer (hinter der Zeitung: Antonio Basile) Sandro im Blick.

Tiffany erklärt die Boutique an der via Condotti, die Laura von Russo geschenkt bekommen hat, als wahre Goldmine. Sandro  verliebt sich in den Vamp Laura, auch wenn er um ihre Verwicklungen in Erpressung und schäbige Geschäfte weiß. Tiffany besucht er noch immer, doch da kommt er bereits aus Lauras Bett.
Tiffanys Anmut und Warmherzigkeit haben keine Chance gegen die kalkulierten Reize der Stripperin Laura. Femi Benussi ist eine gute Schauspielerin, die sich leider viel zu oft nackt präsentieren muss in Bettszenen mit Stafford und mit Alberto de Mendoza als Russo. Mit Lauras rein wirtschaftlichem Dilemma, Russo nicht für Sandro verlassen zu können, verliert der Thriller zugunsten des Melodramas an Spannung.

Lauras Egoismus lässt Femi Benussis Figur trotz aller Erklärungsversuche als Opfer gesellschaftlicher Zwänge vulgär erscheinen.
Tiffany ist hingegen emanzipiert. Als Fotografin ist sie immerhin so erfolgreich, dass die Erwähnung ihres Namens für Sandro Respekt bei Russo verschafft. Sie braucht kein Geschenk wie eine Boutique. Ihre Aufrichtigkeit macht Claude Jades Tiffany zur einzigen sympathischen Figur des Films, denn selbst die undankbar passive Rolle des von Michel Constantin („Das Loch“) gespielten Inspektor Palma lässt sich am Ende von Russo täuschen.
Ihre einzige Abhängigkeit ist ihre Freundschaft zu Frederick Staffords Sandro.

Sandro pflegt wiederholt seine Wunden bei Tiffany, die ihm inzwischen – die eigene Enttäuschung hinter einem Lächeln verbergend – Ratschläge bei seinem Liebeskummer mit Laura gibt.
Als Sandro den Mörder kennt – es ist Lauras verdorbener Bruder Mario – kündigt Tiffany an, Rom zu verlassen. „Es ist eine Stadt ohne Seele, finde ich. Es ist mir hier zu kalt geworden“, begründet sie beim Abschiedskuss ihren Weggang nach Südamerika.

Am bitteren Ende wird Sandro, nachdem Russo ihm Drogen untergeschoben hat, verhaftet und Laura, die bei Russo bleibt, wandert reich und traurig die via Condotti  hinab.
„Man bedauert es, die anmutige Claude Jade nur das Notwendigste spielen zu sehen. Als sie ankündigt, Rom zu verlassen, sollte der Zuschauer es ihr gleichtun und den Saal verlassen“, schreibt „Écran“ zur französischen Premiere des Films.

Und nach Tiffanys Abreise? Claude Jade behält Restaurantbesuche mit Michel Constantin in Trastevere und den freundlichen Regisseur Germán Lorente in guter Erinnerung. Und Frederick Stafford findet, dass  Claude Jades Art zu spielen, reifer sei und sich verbessert habe.

So wie Tiffany im Film Rom in Richtung Südamerika verlässt, tut es auch Claude Jade – sie fliegt nach ihrem römischen Intermezzo zu Bernard nach Brasilien.


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