1968: Baisers volés – Geraubte Küsse

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Frankreich 1968 Regie: François Truffaut Drehbuch: François Truffaut, Claude de Givray, Bernard Revon Musik: Antoine Duhamel Kamera: Denys Clerval Ausstattung: Claude Pignot Schnitt: Agnes Guillemot Script: Suzanne Schiffman Produktion: Les films du Carrosse L: 90 Min.
Darsteller: Jean-Pierre Léaud (Antoine Doinel), Claude Jade (Christine Darbon), Delphine Seyrig (Fabienne Tabard), Michel Lonsdale (Georges Tabard), Daniel Ceccaldi (Lucien Darbon), Claire Duhamel (Madame Darbon), André Falcon (Blady), Harry Max (Henri), Serge Rousseau (der Unbekannte), Catherine Lutz (Catherine), Paul Pavel (Julien), Albert Simono (Albani), Jacques Delord (Robert Espanet, Zauberkünstler), Martine Ferrière (Madame Turgan), François Darbon (Adjudant Picard), Chantal Banlier (Marianne, Verkäuferin), Madeleine Parard (unfreundliche Prostituierte), Christine Pellé (Ida), Marie-France Pisier (Colette), Jean-François Adam (Albert), Jacques Rispal (Colin), Martine Brochard (Mme Colin), Jacques Robiolles (der Fernsehautor), Roger Trapp (Shapiro, Chef des Alcina), France Monteil (zweite Prostituierte), Liza Braconnier (dritte Prostituierte), Karine Jeantet (Françoise, Verkäuferin) u.a.

François Truffauts Alter ego Antoine Doinel (Jean-Pierre Léaud) und dessen Freundin Christine Darbon (Claude Jade) finden in dem poetischen Zeugnis französischer Filmkunst nach zwischenzeitlicher Trennung endgültig zueinander. Truffaut, der seine bis dahin unbekannte Hauptdarstellerin am Théâtre-Moderne entdeckt hat, verliebt sich in Claude Jade. Er macht ihr den Hof und will sie im Juni 1968 heiraten.

Claude Jade und François Truffaut bei Dreharbeiten zu “Baisers volés”

Claude Jade und François Truffaut bei Dreharbeiten zu “Baisers volés”

Anfang Januar 1968 wird Claude von François Truffaut in sein Büro in der rue Robert-Estienne bestellt. In der zweiten Etage öffnet ihr ein Mann; nicht sehr groß, mit hoher Stirn und intensivem Blick. Er trägt unter seinem grauen Pullover ein blaues Hemd mit Krawatte. Claude erinnert sich vage an ein Photo, das den Regisseur bei Dreharbeiten mit Jeanne Moreau zeigte. „Guten Tag, mein Herr, ich glaube, dass Sie es sind, mit dem ich eine Verabredung habe“, stellt sie sich diesem Mann vor, den diese Art der Begrüßung erheitert. Er führt sie in sein Büro und erläutert ihr sein neues Projekt.
Mit  „Baisers volés“ (Geraubte Küsse) will Truffaut die Reihe um seinen jugendlichen Helden aus „Les quatre cents coups“ (Sie küßten und sie schlugen ihn) von 1959, Antoine Doinel, fortsetzen. Jean-Pierre Léaud wird wieder das Alter ego des Regisseurs spielen.

Baisers_voles_Claude_Jade_1968Die Rolle, die François Truffaut ihr anbietet, ist vorerst nicht sehr groß. In einer Clique von Doinel gibt es neben der Figur des Kumpels Didier zwei Mädchen, Christine und Juliette. Claude Jade soll die Christine spielen. Kurz nach dem Treffen erhält sie die Nachricht, dass die Rollen des Didier und der Juliette gestrichen wurden. Das Drehbuch sieht nun Christine als Heldin des Films vor. „Ich entsprach wohl dem Bild, dass er sich von einem jungen, unverdorbenen Mädchen machte“, erinnert sich Claude Jade im Gespräch mit den Truffaut-Biographen Antoine de Baeque und Serge Toubiana an diese erste Begegnung. „Als ich François zum ersten Mal traf, sagte er, ich benähme mich wie in einem Salon, und das amüsierte ihn sehr, weil ich sehr höflich antwortete ‚Ja, Monsieur, gewiss, Monsieur’. Er neckte alle Welt wegen kleiner Details. Bei mir war es die gute Kinderstube, und ich bekam den Spitznamen ‚Peggy Sage’ – ‚Peggy’ hatte etwas Angelsächsisches und François wusste, dass meine Eltern Anglisten waren.“

Baisers_voles_film_Claude_Jade_Francois_TruffautVor der Besetzung mit Claude Jade war die Figur der Christine noch nicht vollständig entwickelt, wie das erste Treatment zeigt: „Wir werden all das noch einmal untersuchen, da diese Persönlichkeit gänzlich geändert wird gemäß der jungen Schauspielerin, die wir dafür auswählen.“

So wie seine eigene Kindheit Truffaut zu Antoine Doinel und die platonische Jugendliebe Liliane Litvin ihn für die Rolle der Colette in seinem Doinel-Sketch zum Episodenfilm „Liebe mit zwanzig“ inspiriert hat, ist nun Claude Jade selbst die Inspiration zu Christine.

Der Rollenname Christine ist Truffauts Verachtung für die Mode und ihre so falsch klingenden Erkennungszeichen entsprungen. So notierte er in den ersten Entwürfen: „Leute, die ihre Tochter Caroline oder Martine nennen, sind Arschlöcher, die sich zwischen 1950 und 1955 von Martine Carol [als Caroline chérie] berauschen ließen. So wie später Brigitte und jetzt Sylvie. Deshalb keine Martine!“

Um Christine mehr Raum zu geben, wird nicht ein Kumpel mit einer Schachtel  voller Vitamintabletten bei Antoine aufkreuzen sondern Christine. Und statt Antoine ein Kindermädchen verfolgen zu lassen, das seine Zöglinge bei einer Concierge abgibt, um dann in der Kindermädchentracht in einem Lokal zu strippen, lässt Truffaut ihn diese Geschichte einfach Christine und ihrer Mutter erzählen.

Jean-Pierre_Leaud_Antoine_Doinel_Claude_Jade_Christine_DarbonIn „Geraubte Küsse“ kommt das Draufgängertum Antoine Doinels bei seiner Freundin Christine Darbon zum Stillstand. In ihre Familie ist er bereits integriert, doch die ebenso sanfte wie ernsthafte Musikstudentin wehrt seine amourösen Annäherungsversuche ab. Antoine, der einer endgültigen Fixierung auf Christine zu entfliehen versucht, verliebt sich als Detektiv in die Frau eines Klienten und gibt Christine unter dem Vorwurf, sie sei nicht bewundernswert, den Laufpass.
In der verheirateten Fabienne Tabard – gespielt von der sphinxhaften Resnais-Muse Delphine Seyrig – sieht Balzac-Verehrer Doinel seine Madame de Mortsauf und sich selbst als Félix de Vandenesse in Balzacs „Lilie im Tal“. Doch Christine, die statt in einem Balzac in der Vorlage zum nächsten Truffaut-Film blättert und ihrerseits von einem Unbekannten verfolgt und begehrt wird, erhält am Ende Antoines Heiratsversprechen.

Vor ihrem ersten Auftritt ist Claude Jade auf Fotos zu sehen – hier im Esszimmer der Darbons zwischen Jean-Pierre Léaud und Claire Duhamel.

Vor ihrem ersten Auftritt ist Claude Jade auf Fotos zu sehen – hier im Esszimmer der Darbons zwischen Jean-Pierre Léaud und Claire Duhamel.

1968_Baisers_voles_Claude_Jade1968_apparence_Claude_Jade_Baisers_volesDer 5. Februar ist der erste Drehtag für Claude Jade in einem Hotel in der avenue Junot. „Nein, spielen Sie nicht. Seien Sie natürlich“, ist die Anweisung Truffauts für die junge Schauspielerin. „Claude, achten Sie darauf, Ihre Augen nicht aufzureißen!“
Es ist jene Szene, die Claude Jade erstmals auf der Leinwand präsentiert. Antoine wurde von Christines Vater eine Stelle als Nachtportier im Hotel Alcina vermittelt, die Abwesenheit Christines bei diesem Abendessen und die Herauszögerung ihres Erscheinens ist eines der legeren Suspensemomente des Films.
Und auch ihr erster Auftritt nach der Ankündigung durch zwei Photos ist auf Distanz gehalten – durch eine Glasscheibe. Aus dem Dunkel taucht Christine im Lichtschein des Hotelfoyers auf der Straße auf; Claude Jade tritt tatsächlich ins Rampenlicht. Hinter der gläsernen Hoteltür winkt sie sanft Antoine zu, streichelt die Scheibe fast, als sie klopft, lächelt ihm hilflos und schüchtern zu; sie kann die Tür nicht öffnen. Irritiert versucht sie, seinen gestikulierten Anweisungen zu folgen. Das Ergebnis ist zauberhaft: Selten ist eine bislang Unbekannte im Kino mit solcher Zartheit eingeführt worden.
Die Szene wirkt über Generationen: „Claude Jade’s introductory scene, stepping out of the Parisian night appearing like an angel to wave shyly through a glass wall, is a delight.“ (IMDb, 2003) „I fall in love with Claude Jade every time I watch her opening shot in the film, peering through a window at Antoine.“ (Moon in the Gutter, 2012)

Claude Jade an ihrem ersten Drehtag mit François Truffaut und Jean-Pierre Léaud

Claude Jade an ihrem ersten Drehtag mit François Truffaut und Jean-Pierre Léaud

first_appearance_Claude_Jade_Stolen_Kisses_Baisers_voles_Francois_Truffaut„Ich kam an in einer Art Familie, einer wunderbaren Familie, die mich akzeptierte und aufnahm… die Arbeit war wie eine Art Ferien mit einer Bande von Freunden“, sagt Claude Jade 2001 in einem Interview mit Frank Keller für die TV-Sendung „Allôcine“.
Die Feuertaufe des ersten Drehtags ist überstanden und am Abend ist sie wieder die Frida in „Heinrich IV“. Für den 6. Februar, es ist Truffauts 36. Geburtstag, hat Christine Brierre, verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit, einen Pressetermin arrangiert. Es entstehen Photos für „France-Soir“ und „Paris-Jour“. Die 19jährige Claude will Brierres Anweisung, sich als 18jährige auszugeben, nicht verstehen und verzichtet darauf, unnötig zu mogeln. Der Artikel von Jacques Chancel in „Paris-Jour“ titelt: „François Truffaut a choisi sa perle: Claude Jade“

Danielle Darrieux, Claude Jade

Danielle Darrieux, Claude Jade

Truffaut entnimmt den nostalgischen Titel „Baisers volés“ („Gestohlene Küsse“ klingt weniger nach Kasernenhof als „Geraubte Küsse“) dem Lied „Que reste-t-il de nos amours“ von Charles Trénet. Er möchte, dass der Film diesem Chanson entspricht. Als Claude Jade 2001 die Kommentare auf der DVD spricht, erinnert sie sich, dass er ihr das Kompliment machte, sie habe große Ähnlichkeit mit Danielle Darrieux in ihren Anfängen, der grazilen Vertreterin eben jener vergangenen Epoche, die Trénet besingt (Wie sehr vergangen, zeigt sich in der missglückten Untertitelung der deutschen DVD, in der sie mit einem gewissen Daniel Darie verglichen wird). Und als Claude de Givray, Truffauts Co-Autor, der ebenfalls bei der Generalprobe zu „Henri IV“  im Théâtre Moderne dabei war, ergänzt: „Truffaut war begeistert von Claudes Schönheit, der Schönheit der 20er und 30er Jahre“, lacht Claude Jade: „Ja, mit einem Glockenhut!“

Untertitelung der Kommentare auf der deutschen DVD

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1968_Claude_JadeClaude Jade, die tagsüber dreht und abends am Théâtre Moderne die Frida spielt, wird von Truffaut in dessen Kampf um die Cinémathèque française involviert. Am 7. Februar – zwei Tage nach Drehbeginn – erfährt Truffaut, dass sein einstiger Förderer, der kultisch verehrte, doch als Leiter als „unaufgeräumt“ beurteilte Henri Langlois als Chef der Cinémathèque durch einen Mann aus dem Gefolge des Kulturministers André Malraux ersetzt werden soll. Die einstigen Kinder der Cinémathèque und die Ehemaligen der „Cahiers du cinéma“, François Truffaut, Jean-Luc Godard, Jacques Rivette und Claude Chabrol, sind bereit, den Kampf um Langlois aufzunehmen. Unter Truffauts Leitung formiert sich ein aus mehreren Generationen bestehendes Komitee zur Rettung Henri Langlois’.

François Truffaut mobilisiert Filmschaffende aus aller Welt, die nun die Projektion ihrer Filme in der Cinémathèque untersagen, solange Langlois nicht wieder im Amt sei. Es solidarisieren sich unter anderem Jacques Tati, Jean Renoir, Josef von Sternberg, Charles Chaplin, Gloria Swanson, Akira Kurosawa, Jean-Pierre Mocky, Jerry Lewis, Roberto Rossellini, Fritz Lang, Richard Lester. Truffaut greift in Artikeln Malraux an. Am 12. Februar versammeln sich fast dreihundert Regisseure, Schauspieler, Kritiker und Filmliebhaber vor dem Eingang der Cinémathèque, mit François Truffaut, Jean-Pierre Léaud und Claude Jade an der Spitze.

Die erste Demonstration für Henri Langlois und die Cinémathèque française: François Truffaut, Jean-Pierre Léaud und - hinter Léaud im Profil - Claude Jade am 12. Februar 1968.

Die erste Demonstration für Henri Langlois und die Cinémathèque française: François Truffaut, Jean-Pierre Léaud und – hinter Léaud im Profil – Claude Jade am 12. Februar 1968.

Sie blockieren den Zugang. Nur zwei Tage später greift die Polizei ein. Etwa dreitausend Demonstranten treffen auf der Esplanade vor dem Trocadéro ein. Sie werden von dreißig Mannschaftswagen der Polizei und von mobilen Einsatztruppen eingekesselt. Die Polizei setzt Knüppel ein. Truffaut erleidet eine Gehirnerschütterung, Bertrand Taverniers Gesicht ist blutüberströmt… Die Demonstranten weichen der Staatsgewalt, doch die Öffentlichkeit solidarisiert sich mit ihnen. Der Kampf um Langlois wird im März zum Politikum, zwei Monate vor dem Pariser Mai. Und so entsteht der Film eher neben diesem Kampf, der Truffaut vollkommen einnimmt. In den DVD-Kommentaren erinnert sich Claude Jade: „François kam oft zu spät, er verpasste Proben; am Ende ist es ein kleines Wunder, dass der Film so wunderbar wurde.“

Musee_de_Cinema_Cinematheque_francaise_TruffautMit dem Kampf um Langlois beschäftigt, dreht Truffaut seinen Film, der bereits im Vorspann auf den Kampf um die Cinémathèque verweist. Eine Kamerafahrt auf den Eingang des Filmmuseums endet auf dem Schild „Vorübergehend geschlossen“; darüber die Zueignung an Henri Langlois.
Der unehrenhaft aus der Armee entlassene Antoine Doinel besucht zu Beginn des Films die Eltern seiner Freundin Christine Darbon. Christine habe den Unterricht am Konservatorium boykottiert, weil der alte Direktor durch einen neuen ersetzt wurde, erfährt er von Madame Darbon (Claire Duhamel).

hotel_Alcina_Claude_Jade_Jean-Pierre_Leaud_Baisers_volesChristines Stiefvater Lucien (Daniel Ceccaldi) der dem Universum Charles Dickens’ entliehen scheint, besorgt ihm den Posten als Nachtportier im Hotel Alcina. Dort wird ihn am Abend überraschend Christine besuchen. Sie hat ihm Tabletten mitgebracht, die er unbedingt einnehmen müsse, da sie gut gegen Erkältung seien. Fürsorglich vertraut,   doch prüde und leidenschaftslos gibt es ein Küsschen. Christine   fragt sich in netter Provokation, weshalb er ihr während der Militärzeit allein neunzehn Briefe in einer Woche geschrieben habe und beklagt sich freundlich, dass diese auch nicht immer sehr nett gewesen seien. „Ich fand vor allem meine Piepsstimme so lustig“, freut sich Claude Jade in ihren DVD-Kommentaren angesichts dieser Szene.

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Während Christine schelmisch ihre Beziehung hinterfragt, futtert Antoine Vitamintabletten. Jean-Pierre Léaud und Claude Jade in „Baisers volés“

Antoine_Christine_Baisers_voles_Jean-Pierre_Leaud_Claude_JadeClaude Jade und Jean-Pierre Léaud haben sich an der Hotelrezeption umkreist wie in einem Tanz und die Heldin ist etabliert; der Schauplatz darf abgelöst werden und am nächsten Tag verliert Antoine seine Stelle im Alcina, um durch turbulente Umstände Detektiv zu werden. Bei seinen Beschattungen stellt er sich nicht so geschickt an wie jener Unbekannte im Trenchcoat (Serge Rousseau), der Christine nun unablässig durch Straßen und Parks verfolgt.

Beschattungen und Verfolgungen - Jean-Pierre Léaud, Pascale Dauman, Claude Jade und Serge Rousseau in "Baisers volés"

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Baiser_dans_la_cave_Claude_Jade_Jean-Pierre_Leaudgeraubte_kuesse_baisers_voles_Claude_Jade_Jean-Pierre_LeaudAls Christine Antoines neuen Beruf erraten hat und mit ihm die Treppen hinabsteigt, um Wein zu holen, will Antoine sie im Keller der Darbons verführen. Christine bietet ein flüchtiges Küßchen und weist sogleich seinen zu heftigen Kuss brüsk zurück, den er nicht stiehlt sondern raubt, entreißt sich seiner Umarmung und flüchtet vor dem Unschuldsräuber die Treppe hinauf, um vor dem Spiegel sorgsam eine gelöste Strähne hinter das Ohr zu legen. Die Szene im Weinkeller zitiert Truffaut in den Folgefilmen „Domicile conjugal“ und „L’amour en fuite“ und sie ist in ihrem Ewigkeitswert eine der bekanntesten des Films.
cave_a_vin_Baisers_voles_Truffaut_Claude_Jade_Jean-Pierre_LeaudFilmjournalist Luc Honorez beginnt 1992 seinen Artikel „Quelques baisers volés sous la Coupole. Claude Jade tourne pour Mocky“ mit einer Liebeserklärung: „Vor 25 Jahren waren alle verliebt in Christine, ich wie die anderen… Sie war ein junges Mädchen mit unschuldigen und spöttischen Augen. Ihr Körper mit den zarten Kurven des Baches aus den letzten Ferien verführte uns, mit ihr gemeinsam Wein im Keller suchen zu wollen, aber wenn man zu gewagt vorgehen würde, warnte sie uns: Nicht berühren! und man gehorchte ihr… Manchmal zwang sie uns, Lieder von Trenet mit dem Herzen zu erlernen, und wir sangen mit voller Stimme, in der Hoffnung, dass unser Gesang sie würde tanzen lassen und dass ihr Faltenrock sich aufrichten würde… Und die Schauspielerin unter der fiktiven Vibration der Christine Darbon war für uns wahr geworden, eine emotionale Welle, die diesen Namen umfasst: Claude Jade! Claude Jade begegnete ich aufs Geratewohl auf Festivals, in Moskau, Istanbul, Brüssel, Cannes. Eines Abend in Istanbul in der letzten Etage des Hilton bat ich sogar ihren Ehemann um die Erlaubnis, mit ihr tanzen zu dürfen. Ich achtete gut darauf, sie nicht Christine zu nennen.“

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cinema_baisers_voles_claude_jade_truffautDa Christine ohnehin häufig mit Freunden zu Demonstrationen geht, fühlt sich Antoine vernachlässigt. Wie schon der Boykott des Unterrichts am Konservatorium verweist ein Telefongespräch, in dem Christine erwähnt, dass ihre Freundin Marie-Aimée von Polizisten verprügelt wurde, direkt auf die Affäre Langlois. Christine begleitet Antoine in ein Cabaret, wo er einen Zauberkünstler, den Liebhaber eines Klienten, beobachten soll. „In einem Cabaret kannst du nicht so zudringlich werden wie in einem dunklen Kino und ich habe meine Ruhe“, stellt Christine klar.

images_maison_famille_darbon_baisers_voles_claude_jade_violon_serge_rousseau_francois_truffaut_pontinAls Antoine am nächsten Tag Christine abholen will, erfährt er von ihrer Mutter, dass sie nicht da sei. Tatsächlich sehen wir nach einer langsamen Kamerafahrt zur rechten Seite des Hauses Claude Jade, die geduckt aus einem Dienstboteneingang flüchtet, um Antoine aus dem Weg zu gehen. „Ich erinnere mich daran, dass ich eine Szene nach Maßgabe der Filmkulisse improvisiert habe“, berichtet François Truffaut später: „Das Haus von Christines Eltern besaß zwei Ausgänge. Ich war sehr glücklich darüber, da ich hier etwas tun konnte, was ich vorher nicht gewagt hätte. Die Situation stellte sich tatsächlich der Psychologie der Figuren entgegen. Man sah Antoine, wie er bei Christines Eltern ankam; die Mutter sagte an der Tür, dass Christine weggegangen sei, bestand jedoch darauf, dass er hereinkam. Als sie ihn überredet hat, wirft Claire Duhamel einen Blick zur Seite. Plötzlich sah man auf der rechten Seite des Bildes, wie sich die Kellertüre öffnete und Claude Jade herauskam, die sich unter den Fenstern vorbeischlich. Diese rätselhafte Szene sollte zu verstehen geben, dass es zwischen Mutter und Tochter eine Komplizenschaft gab und Claude Jade ein Doppelleben führte. Man konnte vermuten, dass sich Claude Jade mit dem Mann im Trenchcoat treffen wollte, der sie ja seit Beginn des Films unablässig verfolgte.“

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parc_heros_Baisers_voles_Jade_Leaud parc_heros_2_Baisers_voles_Leaud_JadeAls Claude Jade bei den DVD-Kommentaren das Haus in Pontin wiederentdeckt, erinnert sie sich, dass Truffaut immer darauf bestand, eine natürliche Umgebung zu finden, die wie eine künstliche Kulisse aussah. Zur Szene von Christines Flucht äußert sich auch Filmkritiker Massimo Marcelli: „Die übergroße Bedeutung, die der Inszenierung beigemessen wird, liegt gerade in der Improvisation: zwei Ausgänge eines Hauses können Anlass für eine thematische Abschweifung, ja sogar für eine unmotivierte Komplikation sein. So ist auch das Ungewisse im Verhältnis von Léaud und Claude Jade das Moment, das es so lebendig macht: Wir ahnen etwas, das der Vergangenheit ihres Lebens angehört, und wir dürfen Voraussagen über ihre Zukunft treffen, müssen aber jede Schlussfolgerung auf später verschieben. Die beiden ziehen an uns vorüber, bleiben manchmal stehen, kehren uns den Rücken zu, entfernen sich.“

Jean_Pierre_Leaud_Claude_Jade_Baisers_volesClaude Jade und Jean-Pierre Léaud verzichten meist darauf, das Manuskript zu lesen. Die Anweisungen des Regisseurs und gewisse Dialogorientierungen genügen ihnen, um das Geschehen Szene um Szene nachzuerleben.
Claude Jade, die im Gegensatz zu Léaud den Text an einigen Tagen anlernt, verfügt über ein Kurzzeitgedächtnis, das der Theaterschauspielerin ohne strikte Festlegung eine symbiotische Annäherung an Léauds Spontaneität ermöglicht. In den DVD-Kommentaren beschreibt Claude Jade die Maßgaben: „Für François war das Drehbuch von 80 bis 100 Seiten nur eine Art Gedächtnisstütze, er gab nur Anweisungen zum Inhalt. Er schrieb Szenen oft erst am Abend zuvor oder fünf Minuten vor dem Dreh. André Falcon von der Comédie-française erschreckte diese Arbeitsweise furchtbar, denn er war es gewohnt, seine Texte lange vorher zu lernen.“

cherche_cherche_1_Claude_Jade_Jean-Pierre_Leaud_Baisers_volesKomplett improvisiert ist die Szene, in der Christine Antoines neues Metier als Detektiv erraten soll. Jean-Pierre Léaud und Daniel Ceccaldi verhören darin Claude Jade maliziös amüsiert. „Wasserschmecker!“ – „Idiotisch“ – „Nein, nein, das ist ein ganz toller Beruf, das wurde neulich im Fernsehen gezeigt“, argumentiert sie erfrischend enthusiastisch in der Charade von Stiefvater und Verlobtem.

 cherche_cherche_2_Daniel_Ceccaldi_Lucien_Darbon_Baisers_volesDas Vergnügen der Männer  steigt mit dem spielerischen Ehrgeiz der rätselnden Claude Jade, die ihre  kindliche Freude an diesem Spiel auskostet. Ihre Partner geben ihr kleine Hinweise und freuen sich diebisch über ihre Fehlschlüsse, bis sie  sich über „Gepäckträger in Orly“ (nein, dafür hat er nicht genug Beziehungen!), Schriftsteller und Nachttaxifahrer bis zum Sheriff verirrt: „Das ist doch kein Revolver; das ist ’ne große Lupe!“

Antoine Caution, détective privé. Jean-Pierre Léaud, Claude Jade und Daniel Ceccaldi improvisieren in "Baisers volés"

Antoine Caution, détective privé. Jean-Pierre Léaud, Claude Jade und Daniel Ceccaldi improvisieren in „Baisers volés“

scene_Baisers_voles_Claude_Jade_Daniel_Ceccaldi_Jean-Pierre_LeaudDie Improvisation ist eines der vielen Stilmittel, die in „Baisers volés“ Verwendung finden. Das Lexikon des Internationalen Films nennt den Film ein „poesievolles Zeugnis traditioneller und moderner französischer Filmkunst, eine sichere Stilübung“ . Neben starken filmischen wie der Öffnung des Bildes, als wir erstmals den Unbekannten sehen, ist auch das theatralische Moment sehr ausgeprägt. 12 Jahre vor „Le dernier métro“ sind viele Schauplätze in „Baisers volés“ echte Theaterkulissen, so auch die Autowerkstatt der Darbons.

bureau_garage_Darbon_Baisers_voles_Claude_Jade_Jean-Pierre_Leaud_Daniel_Ceccaldi_Claire_Duhamel_Francois_TruffautBanania_Madame_Langman_Baisers_voles_Claude_Jade_Claire_Duhamel_Daniel_Ceccaldi_Jean-Pierre_Leaud_TruffautNachdem Christine den Beruf erraten und sich des Kusses im Weinkeller erwehrt hat, sehen wir nun Claire Duhamel an einem Schreibtisch im Büro der Werkstatt. Von links tritt Antoine auf, der wild gestikulierend von seinem ersten Auftrag als Detektiv berichtet. Er geht dabei in der Totalen auf die Kamera zu, wendet sich von ihr ab, während Daniel Ceccaldi und Claude Jade die Szene betreten. Jede Bewegung der vier Schauspieler ist auf die räumlichen Verhältnisse abgestimmt, zumal das Suchen Ceccaldis nach der Adresse eines bestimmten Kunden die Bürokulisse mit Unruhe erfüllt und die anderen drei ihm ausweichen müssen. Eine brilliante Idee Antoines, wie die Adresse mit detektivischem Talent gefunden werden kann, löst die Szene auf, die ein Übergang ist zum Besuch des Pärchens in einem Cabaret.

Baisers_voles_ventura_cabaret_Jean_Pierre_Leaud_Claude_Jademain_caresses_Baisers_voles_Claude_Jade_Leaud_TruffautHier darf Christine erstmals Detektiv Antoine bei einer Beschattung begleiten, die jedoch ernüchternd ausfällt. Nach der Vorstellung des zu observierenden Zauberkünstlers lässt Antoine seine Freundin sitzen und eilt der Zielperson hinterher.  Hatte Christine ihren Freund entmutigt, er könne im Cabaret nicht so zudringlich werden wie in einem dunklen Kino, ist sie es, die mit Erlöschen des Saallichts ihre Finger an die seinen schmiegt. Ermutigt oder aufgefordert – Antoine streichelt nun ihre Hand, eine Geste, exemplarisch für zahlreiche Bilder in Truffaut-Filmen, die sich seit „Jules et Jim“ und „La peau douce“  immer wieder selbstreferentiell zitiert (in „La nuit américaine“ ist es Truffaut selbst, der so als Regisseur Ferrand seine Stars für jene Geste einrichtet).
regard_cabaret_Claude_Jade_Jean-Pierre_Leaud_Truffaut_Baisers_volesIm Cabaret schließlich wechselt die Perspektive der Observierung; der Zauberkünstler wird zum McGuffin und Truffaut variiert sein Detektivthema und erweitert es: Während Antoine den Magier nicht aus den Augen lässt, ist es nun Christine, die ihn beobachtet. Und der äußere Blick Truffauts auf die Blicke seiner Hauptdarstellerin ist der auf ein Gesicht, wie von innen erhellt. Über Claude Jades Blick findet Anke Sterneborg in der „Süddeutschen Zeitung“ Jahrzehnte später folgende Worte: „Es ist jener etwas versunkene, erste Blick zwischen Verwunderung über das Leben und Verzauberung durch die Liebe.“

Annährung erneut gescheitert: Egoist Antoine lässt Christine allein zurück.

magazin_chaussures_4_Tabard_Claude_Jade_Jean-Pierre_Leaud_Baisers_volesAuf das Scheitern dieser Annäherung folgt das Ende seines ersten Auftrags. Antoine, so stellt sich heraus, ist für Beschattungen nicht geeignet. Der Auftraggeber, der in den Zauberkünstler verliebte Monsieur Albani, wird abgelöst durch einen neuen Klienten: Georges Tabard (Michael Lonsdale) will herausfinden, weshalb niemand ihn liebt.
Antoine wird als Periskop in Tabards Schuhgeschäft eingeschleust. Zwischen dem Sortieren von Schuhkartons und dem Belauschen der Verkäuferinnen verliebt sich Antoine in Tabards Frau Fabienne (Delphine Seyrig). Wie Monsieur Albani und der Varieté-Zauberer, wie der eifersüchtige Mann, der seine Frau im Hotel inflagranti ertappt, wie Christines Eltern oder der in seine Kollegin  verliebte Detektiv Julien sind die Tabards eine der vielen Beziehungskonstellationen, die Antoines Verhältnis zu Christine kontrastieren. Auf seiner Flucht vor der definitiven Fixierung auf Christine wird Madame Tabard, selbst nur eine Episode auf dieser Flucht,  zur „überirdischen Erscheinung“.

"Christine Darbon, Christine Darbon, Fabienne Tabard, Fabienne Tabard, Antoine Doinel, Antoine Doinel, Antoine Doinel, Antoine Doinel..."

„Christine Darbon, Christine Darbon, Fabienne Tabard, Fabienne Tabard, Antoine Doinel, Antoine Doinel, Antoine Doinel, Antoine Doinel…“

Delphine_Seyrig_Claude_JadeTabard_Fabienne_Darbon_ChristineDie Szene, in der Antoine nun die Namen der beiden Frauen, Christine Darbon und Fabienne Tabard, vor dem Badezimmerspiegel skandiert, und bei seinem eigenen Namen endet, fand inzwischen Einzug in ein Chanson von Vincent Delerm, „Nous imitions François Truffaut „: „Nous répétons dans un miroir Christine Darbon, Fabienne Tabard“.
Ein Theatermonolog in Reinform, voller crescendi, ist dieser Versuch Antoines, die Namen der beiden in ihrer Wirkung auf sich zu prüfen, um letztendlich sich selbst zu reflektieren. Er landet nur bei sich. Die beiden Schauspielerinnen kreuzen sich in einer einzigen Szene, dem Übergang zu Antoines vorläufigem Bruch mit Christine.

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                                    „Liebe setzt Bewunderung voraus. Und ich habe dich nie bewundert, nicht einmal als ich geglaubt habe, ich liebe dich.“

christine_Darbon_parc_Claude_Jade_Baisers_voles_TruffautChristine beklagt sich, dass Antoine sich rar mache. Das stehe in keinem Verhältnis zu seinen Briefen und Versprechungen. Er habe geschrieben, er könne sich vorstellen, für sie mehr als nur Freundschaft zu empfinden. Antoine entgegnet, Liebe setze Bewunderung voraus und ebenda liege der Hase im Pfeffer: „Ich habe dich nie bewundert, nicht einmal, als ich geglaubt hab, ich liebe dich.“ Nach dieser ungeheuren Kränkung entfernt sich Christine, wieder verfolgt vom Zeugen dieses Disputs, dem Mann im Trenchcoat.
Die von Jean-Pierre Léaud und Claude Jade brillant gespielte Szene verführte auch Pariser Schauspielstudenten im Jahr 2010 für ein Showreel, ein Bewerbungsband auf youtube. Doch die Leidenschaft, die von den Eleven über vierzig Jahre später zelebriert wurde, zerstört die poetische Wirkung. „Baisers volés“, zum Valentinstag 2014 als „Filmtip für Verliebte“ angepriesen, ist ein poetischer, doch ganz sicher kein „romantischer Film“. Für sentimentale Gefühlichkeit ist kein Platz.

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appartement_Claude_Jadeappartement_Claude_Jade_sacre_coeur_parisNach dem Streit sucht Christine Antoine auf, der gerade von Madame Tabard verführt wird. Truffaut verweigert eine triviale Konfrontation, in der jetzt nahezu jeder Hollywoodfilm zur Sättigung des Publikums seine konventionelle Krönung fände.  Die Tür bleibt verschlossen, wir verlassen das Haus mit Christine, denn auch hier – so die Intention der Szene – folgt ihr der Unbekannte. Und an der Sacré-Cœur, die Christine und ihr Verfolger kreuzen, lauert eine Detektivin, die wiederum Madame Tabard beobachtet und nun weiß, dass diese eine Affaire hat. Die meisterliche Verbindung der Verfolgungen hat eine Konsequenz: Wegen des Stelldicheins mit Tabards Frau verliert Antoine seine Stelle als Detektiv – und wird nun Fernsehmechaniker.

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Francois_Truffaut_Claude_Jade_tournage_Baisers_volesTruffaut führt die Fäden zusammen und lässt das Auto von Lucien Darbon mit einem Wagen des Störungsdienstes SOS 99 99 zusammenstoßen. Als Christine so von Antoines neuem Metier erfährt, wartet sie den Wochenendausflug der Eltern ab, bestellt einen Mechaniker und setzt vor dessen Eintreffen rasch den Fernsehapparat außer Betrieb. Christine hat die Initiative ergriffen und es ist ihr über den Sabotageakt gelungen, Antoines Ausbruchversuche mit einem einem einzigen Handgriff zu stoppen, einer Geste, der noch vor dem Schnitt ein flüchtiger, etwas verlegen lächelnder Blick ins Kinopublikum – oder zum Regisseur neben der Kamera – folgt.

Jean-Pierre Léaud: "Ça a déjà été enlevé ce truc-là?" - Claude Jade: "Oh Oh!.. c'est rigolo ! On croirait un truc de taxi."

Jean-Pierre Léaud: „Ça a déjà été enlevé ce truc-là?“ – Claude Jade: „Oh Oh!.. c’est rigolo ! On croirait un truc de taxi.“

beurrer_une_biscotte_Baisers_voles_Claude_Jade_Jean-Pierre_LeaudAntoine ahnt um díe Manipulation, doch der ulkige Taxizähler des Fernsehmonteurs, den Christine untersucht, wird die ganz Nacht laufen. Sie verbringen sie im Bett von Christines Eltern. Am nächsten Morgen erklärt sie ihm beim Frühstück, wie man einen Zwieback bestreicht, ohne ihn zu zerbrechen. Sie legt einfach einen zweiten unter den zu bestreichenden. „Ich bringe dir alles bei was ich kann, wie zum Beispiel diesen Zwiebacktrick, und du bringst mir alles bei, was du weißt“, verspricht Christine. Das Paar schreibt sich Liebesbotschaften auf behutsam zusammengefaltete kleine Zettel, bis Antoine – einer Eingebung folgend – Christines Hand nimmt und ihr das glänzende Ende eines Flaschenöffners über den Finger streift.

billet_doux_Baisers_voles_Truffaut_Claude_Jade_Jean-Pierre_LeaudSie sind sich sehr nah und trotz dieser Nähe entscheiden sie sich, in aller Stille kleine Botschaften zu schreiben. Scheinbar Banales wird lyrisch, der Alltag poetisiert, ohne Romantik zu erzwingen. Antoine und Christine ersetzen Konventionen durch Individualität: Bereits bei Christines erstem Auftritt hat Pantomime die Konversation ersetzt, hier sind es der Zwiebacktrick, die kleinen Zettel und schließlich der Flaschenöffner aus der Tischschublade. Die Szene am Frühstückstisch ist eine einzige Einstellung auf zwei Personen, die einige Minuten dauert. Viele Kritiker nennen diesen Heiratsantrag den romantischsten der Filmgeschichte. Nun, er ist gewiss der schönste, der je auf der Kinoleinwand zu sehen war.

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finale_1_Baisers_voles_Stolen_Kisses_Claude_Jade_Leaud_Francois_TruffautAuf die Frühstückszene lässt François Truffaut sogleich einen zweiten Antrag an Claude Jade folgen, einen definitiven.
„Sie erhielt gleich in ihrem Debütfilm eine der schönsten Liebeserklärungen des Kinos, als ein unbekannter älterer Mann ihr vor den Augen ihres bindungsscheuen Freundes Antoine einen Heiratsantrag machte.“, schreibt Rolf-Rüdiger Hamacher im Januar 2007 im „Filmdienst“ in seinem Nachruf auf Claude Jade: „Heute wissen wir, dass der geheimnisvolle Fremde, der Christine Darbon alias Claude Jade schon den ganzen Film über verfolgt hat, das alter ego des Regisseurs François Truffaut war, der der jungen Hauptdarstellerin auf so unvergängliche Weise seine Gefühle offenbart.“
finale_2a_Baisers_voles_Stolen_Kisses_Claude_Jade_Leaud_Francois_TruffautIn der finalen Szene sitzen Antoine und Christine auf einer Parkbank. Er schnieft, lehnt jedoch das von ihr angebotene Kleenex ab: „Nein, Papiertaschentücher mag ich nicht.“. Nun nähert sich der Unbekannte. „Dieser Typ verfolgt mich schon seit Tagen. Psst, er kommt her“.
Der Mann, der das Haar in der Suppe war und nun alles ins rechte Licht rückt, geht auf Christine zu und erklärt ihr seine Liebe, ohne Antoine dabei anzusehen: „Mademoiselle, ich weiß, dass ich kein Unbekannter mehr für Sie bin. Ich habe Sie seit langem beobachtet, ohne dass Sie es bemerkten. Doch seit ein paar Tagen versuche ich nicht einmal mehr, mich zu verstecken. Ich weiß jetzt, dass der Augenblick gekommen ist.
finale_3_Baisers_voles_Stolen_Kisses_Claude_Jade_Leaud_Francois_TruffautNun also. Bevor ich Ihnen begegnet bin, habe ich nie jemanden geliebt. Ich hasse alles Provisorische. Ich kenne das Leben; ich weiß aus Erfahrung, dass jeder jeden betrügt. Aber zwischen uns wird es anders sein. Wir werden ein Vorbild sein. Wir werden uns niemals trennen, nicht einmal für eine Stunde. Ich arbeite nicht, ich habe keinerlei Verpflichtungen. Sie werden der Inhalt meines Lebens sein. Ich verstehe. Ich verstehe, dass das alles viel zu plötzlich für Sie kommt. Sie brauchen ja auch nicht sofort ‚Ja’ zu sagen. Sie müssen sich ja vorher erst von den Menschen lösen, von all jenen Beziehungen, die für Sie doch nur vorübergehend sein können.
Mademoiselle, ich bin endgültig. Ich bin sehr glücklich.“
finale_4_Baisers_voles_Stolen_Kisses_Claude_Jade_Leaud_Francois_TruffautAls der Mann geht, ohne eine Antwort abzuwarten, meint Christine perplex: „Der Kerl ist doch verrückt“. „Jaja, sicher“, bestätigt Antoine und geht mit Christine Arm in Arm weiter – zu Charles Trénets „Que reste-t-il de nos amours?“.
Wie er Claude Jade erklärte, kam Truffaut die Idee zu Serge Rousseaus Rolle bei einem Besuch in einem Café. Was passierte, wenn ein Mann vom Nebentisch aufstünde und der weiblichen Hälfte eines Paares seine Liebe erklären würde? Im Film wirkt der Unbekannte wie ein Alter ego Antoines, der wiederum Alter ego Truffauts ist. Und während des Drehs zu „Baisers volés“ beginnt die wahre Liebesgeschichte zwischen François Truffaut und Claude Jade.

Serge Rousseau mit Claude Jade und Jean-Pierre Léaud in der finalen Szene.

Jean-Pierre Léaud. Claude Jade, Serge Rousseau. Truffaut:  „Mit den Jahren, die vergehen, glaube ich, dass diese letzte Szene von „Baisers volés“, die mit viel Unschuld gedreht wurde, ohne selbst zu wissen, was sie sagen wollte, zu einem Schlüssel für fast alle Geschichten wird, die ich erzähle…“.

Verliebt in die Hauptdarstellerin: François Truffaut mit Claude Jade und seinem filmischen Double Jean-Pierre Léaud

Verliebt in die Hauptdarstellerin: François Truffaut mit Claude Jade und seinem filmischen Double Jean-Pierre Léaud

Für die Einstellung auf das junge Paar im Ehebett der Eltern streicht François ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Dieser Moment macht Claude bewusst, dass sie ihn liebt.

Für die Einstellung auf das junge Paar im Ehebett der Eltern streicht François ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Dieser Moment macht Claude bewusst, dass sie ihn liebt.

An einem Montagabend, an dem Claude Jade nicht am Theater spielt, lädt Truffaut sie ein, sich mit ihm seinen letzten Film, „Die Braut trug schwarz“, anzusehen. Er spricht mit ihr über seine Freundschaft zu Jeanne Moreau, über Hitchcock und das Kino. Doch der Moment, in dem sie sich auch in ihn verliebt, überrascht sie während der Dreharbeiten.
Für jene Szene, in der Antoine und Christine im Bett der Darbons schlafen, streicht Truffaut ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Diese Geste ist es, die Claude Jade konfus macht. Nach einigen Vorahnungen wird auch sie sich ihrer Gefühle bewusst. Am 26. Februar lädt François Truffaut sie per Rohrpostbrief, dem Posttransportmittel, dessen sich auch die Figuren in „Baisers volés“ bedienen, zu sich ein.
„Mein teure Claude,
ich erwarte Sie am nächsten Dienstag, am 5. März, um 21 Uhr bei mir, 35 rue de Passy. Sie müssen den Geschäftseingang des Inno-Passy nehmen. Ein erster Fahrstuhl wird Sie in die erste Etage führen und von dort bringt sie ein zweiter in die zehnte Etage. Mein Name steht neben der Tür. Wir essen zusammen; entweder schnell, wenn Sie noch ausgehen wollen, um einen Film zu sehen, andernfalls ruhig.
Liebevoll der Ihre, françois“.

amour_Claude_Jade_et_Francois_TruffautIn seiner Wohnung trinken sie Champagner, für Truffaut der einzige Wein, den er trinke. „Champagner ist die Milch der Erwachsenen“, zitiert er Jeanne Moreau. Sie essen gemeinsam, reden viel, zum Dessert gibt es Joghurt mit Clementinen – wie in den Filmen Truffauts üblich. Anschließend sehen sie im Kino Ernst Lubitschs „Sein oder Nichtsein“ und Truffaut bringt sie danach heim in die rue Rémusat.
Am 8. März erhält sie wieder einen Brief mit der Unterschrift, für die der Liebende nie einen Großbuchstaben verwendet:
„Freitagmorgen. Meine teure und zarte Claude, wenn Sie mir das Vergnügen machen würden, mit mir am Dienstag gemeinsam zu essen, unter der Bedingung, dass es Ihnen zusagt… Bei den gestrigen Dreharbeiten, als ich mich im Gang umdrehte und Sie sah, hatte ich ein starkes Vergnügen, ein sehr starkes, dass Sie meinem Gesicht nicht ablesen konnten, da es ganz tief in mir war. Ich küsse Sie zärtlich.
françois.“

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Stolen_Kisses_Baisers_voles_Claude_Jade_Francois_Truffaut_1968Am Samstag sendet er ihr einen großen Strauß Tulpen, dazu die Worte: „Ich umarme Sie zärtlich. Bis Dienstag? fr.“ Auch ins Theater schickt er ihr Blumen. Die Rohrpostbriefe werden immer häufiger. „Wenn ich Sie nicht sehe, fehlen Sie mir sehr“, schreibt François Truffaut am 25. März. „Ich liebe es, Sie in den Armen zu halten.“ Als er ihr sein Buch „Le cinema selon Hitchcock“ (Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?) schenkt, signiert er es: „Für Claude, die ich liebe“. (Als Truffaut 1980 eine Neuauflage herausbringt, erläutert er zur Besetzung des Hitchcock-Films „Topaz“: „…und die junge Claude Jade, die eine heimliche Tochter Grace Kellys sein könnte“).
Truffaut holt sie desöfteren vom Theater ab, sie essen gemeinsam. Und er geht mit ihr einkaufen. Bei einer Freundin, Liliane Dreyfus, kauft er ihr jenen grauen Mantel, den sie in der Schlussszene trägt.

Claude_Jade_image_Baisers_voles_Stolen_KissesNach jener Szene, die auch der letzte Drehtag ist, fühlt sich Claude Jade einsam. Abschied von der Familie der „Les films du Carrosse“. François Truffauts Co-Autor Claude de Givray, ebenfalls Regisseur, bietet ihr gleich nach Ende der Dreharbeiten eine Hauptrolle in einem TV-Sechsteiler an: als Waise Françoise in der Familiensaga „Mauregard“. Claude nimmt an; François nennt sie überqualifiziert: „Mit deinen großen blauen Augen könntest du ganz allein die ‚Zwei Waisen‘ spielen.“
Claude Jade bleibt in Paris, eröffnet ihr eigenes Konto und zieht aus der Wohngemeinschaft in ein hübsches Appartement an der rue Félicien-David, mit Blick auf die Straße und einem Balkon mit Aussicht auf den Garten. Ihre Nachbarn sind Dominique Sanda, die ein Jahr später mit Robert Bressons „Die Sanfte“ berühmt wird, und Jean Image, Schöpfer der Zeichentrickserie „Kiri, le clown“.

Telefon daheim wie Christine Darbon? Nein, im Bristro wie Christine Doinel in “Domicile conjugal".

Telefon daheim wie Christine Darbon? Nein, im Bristro wie Christine Doinel in “Domicile conjugal“.

Das Interphone, über das Claude aus dem zweiten Stock ihre Besucher begrüßen kann, amüsiert François Truffaut so sehr, dass er über diese Sprechanlage Jean-Paul Belmondo und Catherine Deneuve in seinen nächsten Film „Das Geheimnis der falschen Braut“ (La sirène du Mississippi) parlieren lässt.
Da Claude wie viele andere zwei Jahre auf einen Telefonanschluss warten muss und wie die meisten den öffentlichen Fernsprecher in der Bar an der Ecke benutzt, erhält sie von ihrem Verehrer weiterhin die liebevollen Rohrpostbriefe.

douce_Claude_Jade_Baisers_voles_1968_stolen_kisses_geraubte_kuesseTrotz des anhaltenden Erfolges wird „Henri IV“ abgesetzt. Die letzte Vorstellung, in der François Truffaut wieder im Publikum sitzt, spielt Claude allein für ihn. In jener Szene, in der Frida zum ersten Mal Heinrich begegnet und nicht nur über den eigenen Identitätsverlust voller Angst ist, presst Schauspieler Elie Pressmann in der Rolle von Fridas Verlobtem Carlo Claudes Hand zur Beruhigung. François Truffaut, der Wortspiele liebt, nennt den Akteur nun „Presse-main“ (Press-Hand) und feiert mit ihr und ihren Kollegen die Abschiedsfeier an jenem Ort, an dem er sie entdeckt hatte.

 Truffaut spricht mit ihr über seine Ex-Frau Madeleine und seine Töchter Laura und Eva, damals neun und sechs Jahre alt. Ihre Bilder stehen neben denen von Sacha Guitry, André Bazin, Jean Renoir und Françoise Dorléac, die ein Jahr zuvor ums Leben kam. Neben all diesen Bildern steht nun ein Foto von Claude Jade, das er bis zum Ende seines Lebens aufbewahren wird.

 Claude Jade erfährt, dass ihn Madeleine bei der Generalprobe zu „Heinrich IV“ begleitet hatte und lernt seine Töchter kennen. Sie vergnügt sich an einem Nachmittag mit ihnen, leiht deren Puppen ihre Stimme; sie lachen und albern herum. François meint, sie sei den Mädchen näher als ihm. Tatsächlich ist Claude nur zehn Jahre älter als Laura, während François fast doppelt so alt wie sie ist.

Die Verlobten des Jahres 1968: François Truffaut, Claude Jade

Die Verlobten des Jahres 1968: François Truffaut, Claude Jade

Als Claude Paris verlässt, um auf dem Lande die ersten Szenen zu „Mauregard“ zu drehen, erhält sie am nächsten Tag ein Telegramm, dass François abends eintrifft. Er macht ihr einen Antrag. Sie ist überglücklich. Der Mann, den sie bewundert und den sie liebt, ist verrückt nach ihr. Sie fahren gemeinsam lachend zurück nach Paris. Sie wagt noch nicht, ihren Eltern Mitteilung zu machen und telefoniert mit Luce Garcia-Ville, die mit Sacha Pitoëff nach Dijon reisen wird, um die Eltern mit dieser Nachricht zu überraschen.

In Paris feiert das junge Paar mit Freunden von François, Claude Berri und dessen Frau Anne-Marie. Claude Jade lernt an diesem Abend auch Helen Scott, die gemeinsame Freundin Hitchcocks und Truffauts, kennen. François und Helen wirken auf die junge Braut wie „Laurel und Hardy“: François’ zierliche Silhouette neben jener der imposanten Helen.

geste_1968_mis_en_scene_Claude_Jade_Francois_Truffaut_Stolen_Kisses_Baisers_voles_Geraubte_kuesseFrançois Truffaut begegnet bei einem Essen im Chez Francis  auch Annie Jorré, der Schwester seiner Braut.
Besessen von der Verbindung des eigenen Lebens zu seinem Werk, bittet  Claude um ein Photo Annies für seinen nächsten Film „Das Geheimnis der falschen Braut“. Annie soll ihr Antlitz jener Frau leihen, für die sich Marion (Catherine Deneuve) in ihren Briefen ausgibt – quasi dem Bild der ermordeten Julie Roussel, deren Identität die Mörderin annimmt.
Claude findet, es fehle dieser Idee an Delikatesse. Truffaut wird später ein Photo von Nelly Borgeaud verwenden, die auch die Rolle von Julies Schwester Berthe Roussel spielt.

1968_la_vedette_du_cinema_francais_Claude_Jade_star_petite_fiancee_du_cinema_francais Am 22. April 1968 bittet François Truffaut Marcelle Jorré in einem Brief um die Hand ihrer Tochter.
„Sehr geehrte Madame,
als ich das Vergnügen hatte, Ihnen vor zwei Monaten in diesem kleinen Café an den Invalides vorgestellt zu werden, zweifelte ich nicht mehr als Sie, dass wir uns noch einmal näher kommen würden, um über die Zukunft von Claude zu diskutieren, über ihre Zukunft mit mir. Ich verliebte mich bereits konfus in Claude, seit ich sie für den Film ausgewählt hatte; und immer deutlicher wurde diese Liebe, als ich mit ihr arbeitete. Unseres Altersunterschiedes bewusst – ich kann sogar von einer Generation sprechen – gedachte ich, kein Glück zu haben, ihre Aufmerksamkeit zu wecken, weshalb ich den Zeitpunkt dahingehend verzögerte, diesem Geständnis erst außerhalb der Arbeit zu begegnen. Ich möchte verhindern, dass Sie denken könnten, mein auf Claude gerichteter Elan sei unüberlegt. Verheiratet im Jahre 1957, geschieden im Jahre 1964, lebe ich seit diesem Datum allein und habe vier Filme gedreht, ohne mich dabei je in die Hauptdarstellerin zu verlieben… Die Folge kennen Sie. Ich traf mich gestern mit Annie und ich kann nur Ihnen sagen, dass ich sehr glücklich und für Ihr Verständnis, uns zu unterstützen, extrem dankbar bin. Ich liebe Claude, weil sie schön, einfach, sonderbar drollig, rein und lebensfroh ist, gleichzeitig sehr Frau und sehr Kind. Ich wünsche, sie glücklich zu machen, und ich gedenke, darin erfolgreich sein zu können. Ich glaube, dass wir im Juni heiraten müssten, aber jetzt nehme ich wohl eine Unterhaltung vorweg, die wir demnächst zusammen mit Monsieur Jorré und Claude haben werden; und das sehr bald, hoffe ich,
sehr aufrichtig der Ihre,
françois truffaut“

couple_cinema_les_fiancees_mariage_claude_jade_francois_truffautAls Trauzeugen wählt François Truffaut den Produzenten Marcel Berbert und den Schauspieler Jean-Claude Brialy. Ende Juni soll die Hochzeit in Dijon stattfinden. Claude besorgt sich das Hochzeitskleid bei „Franck et Fils“ und reist zu ihrer inzwischen im Norden Englands lebenden Schwester Annie nach Newcastle-upon-Tyne.
Als sie nach Paris zurückkehrt, sind die Mai-Unruhen in vollem Gange. François boykottiert mit seinen Kollegen Louis Malle, Jean-Luc Godard, Claude Lelouch und anderen die Filmfestspiele von Cannes. Er verbietet ihr aus der Ferne, ins Quartier Latin zu gehen. Das sei zu gefährlich. In Begleitung Helen Scotts geht sie einmal aus, bleibt ansonsten folgsam.
Im Februar im Kampf für Langlois noch an der Spitze der Demonstrationen, bleibt sie den Barrikaden fern. Sie verbringt die Tage mit den Nachrichten aus dem Radio. Frustrierende Tage.

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1968_couple_world_cinema_Claude_Jade_Francois_TruffautEines Abends, nach einem gemeinsamen Essen, versetzt François Truffaut ihr einen tiefen Schmerz. Brutal und kalt sagt er ihr im Auto, er habe seine Meinung geändert und wolle sie nicht mehr heiraten. „Warum“, ist das einzige, was sie zu fragen instande ist. Mehr wird nicht geredet an diesem Abend. Schweigend verbringt François Truffaut einige Stunden bei ihr, dann nimmt sie ein Taxi und den Zug nach Dijon. Sie weint drei Wochen, will nichts essen, die Eltern sorgen sich um ihre Gesundheit. Nach einer platonischen Romanze mit Yves Isserman, einem Jungen aus Dijon, war François Truffaut für die Neunzehnjährige die erste Liebe. Der Schmerz bleibt, auch wenn beide Freunde werden, er ihr weiterhin zärtliche Briefe schreibt, sie „meine dritte Tochter“ nennt und sie ihn trösten wird, wenn ihn der Liebeskummer quält. Für beide, diskret im Herzen und nie in beider Karriere auf die Journaille angewiesen, bleibt ihre gemeinsame Geschichte eingeschlossen in einem Tresor, den erst eine Truffaut-Biographie 1999 öffnet.

Claude Jade 1991 in der Sendung "Parlez-moi d'amour"

Claude Jade 1991 in der Sendung „Parlez-moi d’amour“

Am 13.Juni 1991 wird sie in Sophie Garels Sendung „Parlez-moi d’amour“ nach ihrem ersten Liebeskummer befragt. Den habe sie mit 19 gehabt. Ihr Vater sei sehr hilfsbereit gewesen und habe ihr all seine Zeit gewidmet: „Er ging mit mir ins Kino, in Filme, die ihn eigentlich nicht interessierten.“ Der Frage Sophie Garels nach dem Mann, der ihr das Herz gebrochen habe, weicht sie galant aus: „Ich behalte aus jener Zeit die Erinnerung an meinen Vater, der mich beschützte.“
Erst 23 Jahre nach der abgesagten Hochzeit, als sie 1992 in Dijon am Theater spielt, wird Claude im Nachlass ihrer Mutter einen sehr langen Brief von François Truffaut finden, in dem er sich und und die Gründe für den Bruch erklärt; dass Claude sein Rettungsanker werden sollte inmitten seiner Liebe zu dominaten Frauen.

François Truffaut und Claude Jade in der Premiere am 4. September

François Truffaut und Claude Jade in der Premiere am 4. September 1968

 „Etwa zwanzig Personen sahen bisher ‚Baisers volés‘ und alle liebten und bewunderten Claude“, schreibt François Truffaut am 25. Juni.
Am 4. September erlebt „Baisers volés“ seine Premiere in der Cinémathèque française, die Photographen umlagern die Neuentdeckung Claude Jade. Der alte und neue Hausherr Henri Langlois, dem der Film gewidmet ist, macht Truffaut einen Vorschlag. Er sähe das junge Paar gerne in einer Fortsetzung: „Verheiraten Sie Jean-Pierre Léaud und Claude Jade!“
Der Film bricht Zuschauerrekorde und erringt zahlreiche nationale und internationale Preise: den Prix Louis Delluc, den Prix Méliès, den Grand Prix du Cinéma Français, den Prize of the British Film Institute, den Prix Fémina belge, den Award of Hollywood Foreign Association; es folgen Nominierungen für den Golden Globe und den Oscar… und die Journalisten bezeichnen Claude Jade als neue Hoffnung des französischen Kinos.

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Im „Figaro“ schreibt Louis Chauvet am 12. September 1968: „Die Handlung wird durch den Charme von Caude Jade, der Hauptdarstellerin, bereichert. Valery Larbaud wäre von ihrem geschmeidigen und grazilen Gang sehr angetan gewesen. Ihre Sprache wirkt natürlich und fließend sind ihre Worte. Man kann noch nicht im Voraus sagen, wie die Schauspielerin sich entwickeln wird, aber ihre bezaubernde Anwesenheit gefällt. Mit viel Wahrheit verkörpert Claude Jade letztendlich die geheimnisvolle und etwas schelmische Neugier eines jungen Mädchens in Blüte gegenüber ihrem unberechenbaren Liebhaber.“

Und in „La Croix“ schließt Jean Rochereau seine Kritik mit „einem letzten Wort“ an François Truffaut: „Sie haben mit Claude Jade nicht ein junges Mädchen gewählt, sondern DAS junge Mädchen. Und Jade, Mademoiselle, symbolisiert die Hoffnung!“

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