Mauregard

TV-Sechsteiler 1969. Regie: Claude de Givray  Buch: Claude de Givray, Bernard Revon  Kamera: Pierre Marechal  Ausstattung: Gérard Dubois  Kostüme: Monique Dunan  Musik: Georges Delerue  Prod.: O.R.T.F.  EA: 01.10.1970 („Le temps des amours“, 8.10.1970)
Darsteller: Henri Guisol (Maxence gealtert), Michel Subor (Charles-Auguste), Marie-Blanche Vergnes (Elise), Jacques Berthier (Hippolyte), Gaby Sylvia (Anne-Marie), Richard Leduc (Maxence jung), Claude Jade (Françoise jung),  Brigitte Auber (Françoise gealtert), Jacques Destoop (Clément), Roger Pigaut (Richard), Jandeline (Léontine gealtert), Annick Korrigan (Hélène), Anne Vernon (Agnès), Jackie Gee (Carol),  Marc di Napoli (Clément jugendlich), Christine Simon (Léontine als Kind), Denis Direz (Charles-Auguste als Kind), John Rico (Martin), Michèle Montel (Sophie), Anne-Marie Coffinet (Aline), Françoise Morhange (Mme Eugène), Louise Rioton (Elise alt), Béatrice Romand (Sophie als Kind), Louise Chevalier, Jacques Couturier, Guy d’Avout, Marie Laurence, Marcel Nourquis, Paul Pavel, Jacques Cancellier, Adrien Senat u.a.

Die erste Familiensaga im französischen Fernsehen erzählt von 1865 bis 1970 die Geschichte einer Aristokratenfamilie in sechs Generationen. Geschrieben von Truffauts Co-Autoren Claude de Givray und Bernard Revon, bleibt Claude Jade als Waise Françoise, die sich in der Episode „Le temps des amours“ mit Maxence de Mettray (Richard Leduc) verlobt, mit der Filmfamilie aus „Baisers volés“ verbunden.  François Truffaut erscheint am Drehort, wo er Claude einen Heiratsantrag macht.

Nach Ende der Dreharbeiten zu „Baisers volés“ bietet Claude de Givray, mit Bernard Revon Co-Autor Truffauts bei „Baisers volés“, Claude Jade die weibliche Hauptrolle in einer Episode der sechsteiligen Familiensaga „Mauregard“ an.
De Givray und Revon, die mit Truffaut auch „Domicile conjugal“ kreieren, hatten „Mauregard“ geschrieben und Claude de Givray inszeniert die sechs Kapitel der Saga. Claude Jade wird in „Mauregard: Le temps des amours“ die junge Waise Françoise spielen. Truffaut hält sie scherzend für überqualifiziert: „Mit deinen großen blauen Augen könntest du ganz allein die ‚zwei Waisen’ spielen.“  Truffaut spielt hier auf das von David W. Griffith als „Zwei Waisen im Sturm“ mit Lillian und Dorothy Gish verfilmte Theaterstück „Les deux orphelines“ von Arnolphe d’Ennery an. Lilian und Dorothy Gish widmete er später seinen Film „Die Amerikanische Nacht“.

„Mauregard: Le temps des amours“ schließt 1885 an die Eröffnung „Mauregard: Les temps des espérances“ an, in dem eine Brieftaube 1865 Nachricht vom totgelaubten Hippolyte de Mettray (Jacques Berthier) an Ehefrau Anne-Marie (Gaby Sylvia) und Töchterchen Léontine (Christine Simon) brachte. Zwanzig Jahre später stehen Sohn Maxence (Richard Leduc) und seine Liebe zu Françoise (Claude Jade) im Zentrum. Und auch hier kommt eine Brieftaube zum Einsatz.

Richard Leduc, der den Maxence spielt, hatte seine erste Fernsehrolle neben Claude Jade 1967 in „Les oiseaux rares“: als Charles war er in den späteren Folgen der Serie der Freund von Sylvies Schwester Juliette.
Nach Kino-Hauptrollen in „Paris n’existe pas“ von Robert Benayoun und „L’Éden et après“ von Alain Robbe-Grillet hatte sich Richard Leduc auch als Félix de Vandenesse in Marcel Cravennes Verfilmung von Balzacs „Die Lilie im Tal“ (Le lys dans la vallée) als Liebhaber an der Seite von Delphine Seyrig als Madame de Mortsauf bewiesen.  Er hatte so Antoine Doinel den Rang bei Madame Tabard abgelaufen. Antoine Doinel liest „Die Lilie im Tal“ zu Beginn von „Baisers volés“ und verwechselt Realität und Fiktion, da er Madame Tabard (Seyrig) mit Madame de Mortsauf identifiziert und sich für Félix de Vandenesse hält. „Baisers volés“ ist von Balzacs „Lilie im Tal“ durchdrungen und Balzacs Roman findet auch in „Mauregard“ seine Anspielung.

„Die Lilie im Tal“ wird in „Baisers volés“ von Antoine (Jean-Pierre Léaud) und in „Mauregard“ von Françoise (Claude Jade) und Hélène (Annick Korrigan) gelesen.

War es in „Baisers volés“ Antoine Doinel, der Balzacs „Die Lilie im Tal“ las und damit dem Film eines seiner Motive gab, sind es nun Françoise (Claude Jade) und Hélène (Annick Korrigan), die sich gegenseitig aus Balzacs Roman vorlesen:

„Ich habe nie eine schönere Frau gesehen! Welche Hand! Und welche Gestalt! Ihr heller Teint löscht die Lilie aus, ihre Augen haben diamantenen Glanz!“ (Je n’ai jamais vu de plus belle femme. Quelle main et quelle taille ! Son teint efface le lys, et ses yeux ont l’éclat du diamant !) zitiert Hélène eine Beschreibung der Arabelle und bezieht sie auf Françoise. Sich selbst sieht sie als Madame de Mortsauf.
Bei der weiteren Lektüre stellen sie fest, dass Françoises Vorstellungen von der Liebe sich mit dem, was Balzac schreibt, deckt.

Maxence soll nach dem Willen seines Vaters die reiche Hélène de Lartigautière (Annick Korrigan) heiraten. Doch Maxence verliebt sich in die junge Waise Françoise. An einem Ballabend tritt sie verzagt aus dem Dunkel heraus an den Rand der Tanzfläche. „Wie Porzellan“, beschreibt Hélène die Freundin.

Wenig später sieht Maxence sie dank Hélènes Arrangement in einer Kutsche  wieder und ist verzaubert von ihrer Anmut und Schüchternheit. Er eröffnet Hélène, die ihm eine platonische Freundin ist, sein Verlangen, mit Françoise zusammenzukommen.

Richard Leduc (Maxence) und Claude Jade (Françoise) in „Mauregard“

Richard Leduc (Maxence), Annick Korrigan (Hélène), Claude Jade (Françoise)

Maxence und Françoise halten ihre Liebe geheim: eine Trüffeljagd und ein Ausritt werden zur kleinen Flucht vor dem Arrangement einer standesgemäßen Ehe.
Maxence schlägt vor, Trüffel (Truffes) zu suchen und während der Suche mit dem Ferkel Bismarck jauchzt Françoise über den „Truffe“, was zugleich ein Kosename für François vor allem von Helen Scott war, der amerikanischen Freundin von Alfred Hitchcock und François Truffaut, die Claude während des Pariser Mai in Paris begleitete (siehe „Geraubte Küsse“).
Hélène verrät Françoise während der Heimfahrt, dass sie und Maxence ihren Familien nur etwas vorspielen würden und nicht ineinander verliebt seien.

Annick Korrigan, Richard Leduc, Guy d’Avout, Marie Laurence und Claude Jade

Wenn Hélène die Freundin gemeinsam mit Maxence zu ihren Eltern einlädt und Françoise vom Klavier zu Maxence aufsieht, wird das Versprechen François Truffauts in Bezug auf die „zwei Waisen“ eingelöst.

„Avec tes grands yeux bleus, tu pourrais jouer les deux orphelines à toi tout seule!“ (François Truffaut) Claude Jade, Richard Leduc „Mauregard“

Richard Leduc, Roger Pigaut, Jacques Berthier, Claude Jade

Keine Baisers volés in der Öffentlichkeit. Hélène (Annick Korrigan) unterbricht Maxence (Richard Leduc) und Françoise (Claude Jade).

Beim Vorführen eines Vorgängers des heutigen Motorboots kommt es zu einem Brand, Maxence rettet sich ans Ufer und küsst im Überschwang Françoise, kaum dass sein Vater ihm den Rücken zugedreht hat. Liebesschwüre und immer wieder Küsse, heimliche Küsse. „Le temps des amours“ wird auch zu einer Liebeserklärung an Claude Jade.

 

Die von Truffauts Hauskomponist Georges Delerue und seinem „Mauregard“-Thema zum Schmachten blumig illustrierte Romanze findet ihre Klimax in einem Heiratsantrag, der ebenso ungewöhnlich ist wie jener in „Geraubte Küsse“:  Eine mit einer Brieftaube einfliegende Nachricht besiegelt vorerst das Glück der beiden.  Während der gemeinsamen „Lilie im Tal“-Lektüre erscheint die Ringeltaube und bringt Françoise die heimliche Verlobungsbekanntgabe ans Bett. Wie die Verlobung in ihrem Debüt bei Truffaut ist auch die in der Familiensaga „Mauregard“ unkonventionell. Es ist eine Fernverlobung, ebenfalls zur Frühstückszeit. Nicht der Liebste sondern die Freundin wird ihn ihr auf den Finger stecken: Hélène streift sich nach Lektüre der Taubenpost den Verlobungsring ab und reicht ihn weiter: „Du trägst ihn bei Nacht und ich bei Tage“.

Während Françoises erstem Besuch im Schloss kommt es zu einem Disput Maxences mit seinem Vater.

Nach der Flucht der Liebenden mit einer Kutsche und dann im Zug eilen Hippolyte und Anne-Marie de Mettray den beiden nach: Françoise wird als Verlobte anerkannt und nun darf sie den Ring offiziell tragen.
In der im Jahre 1905 angesiedelten Fortsetzung „Mauregard: Le Temps des intrigues“ übernimmt die 23 Jahre ältere Brigitte Auber, die Juwelendiebin und Fassadenkletterin Danielle aus Hitchcocks „Über den Dächern von Nizza“, die Rolle der um 20 Jahre gealterten Françoise, während Claude Jade parallel mit Hitchcock „Topas“ dreht.

Claude de Givray erklärt die wechselnde Besetzung mit der Unmöglichkeit einer fünfmalig wiederkehrenden Verwendung von Latex-Masken wie in George Stevens’ „Giganten“ für seine Fernsehserie und besetzt die jeweils um zwanzig Jahre gealterten Rollen – bis auf den 64jährigen Henri Guisol als altem Maxence, die 58jährige Jandeline als dessen Schwester Léontine sowie Michel Subor und Marie-Blanche Vergne als Paar Charles Auguste und Elise – durchgehend mit wechselnden Schauspielern.

Kurios: Jandeline, die Anne-Maries Tochter Léontine im Erwachsenenalter spielt und gemeinsam mit Gaby Sylvia in „Le temps des amours“ auftritt, ist neun Jahre älter als ihre Filmmutter.
Die Besetzungsliste weist neben Leinwandgrößen wie Anne Vernon und Roger Pigaut auch den Jungstar Marc Di Napoli („Huckleberry Finn“) auf und ist das TV-Debut der späteren Rohmer-Schauspielerin Béatrice Romand. Mit der Arbeit zu „Mauregard“ bleibt Claude Jade zum Teil  der „Films du Carrosse“-Familie erhalten und ihre Françoise ist trotz der Herkunft aus einem anderen Jahrhundert eine Verwandte Christine Darbons.

Verlobung

Als Claude Paris verlässt, um auf dem Lande die ersten Szenen zu „Mauregard“ zu drehen, erhält sie parallel zu Françoises Brieftaube ein Telegramm, in dem Truffaut ihr den Heiratsantrag macht. Claude Jade schreibt in „Baisers envolés“:
„Als ich gerade zu den Dreharbeiten für Mauregard aufgebrochen war, erhielt ich ein Telegramm. Das ganze Dorf (oder fast das ganze Dorf) wurde vor mir von der Postbeamtin informiert, die ganz aufgeregt war und die wertvolle blaue Botschaft überbrachte. Er kündigte seine Ankunft für denselben Abend in der Touraine an und sagte, dass er eine längere Trennung nicht ertragen könne; ich hatte Paris am Vortag verlassen!
Die Schlossherrin, eine Freundin von Bernard Revon, bei der wir uns nachts aufhielten, fühlte sich sehr geschmeichelt, einen so wichtigen Gast zu empfangen.
Als er aus dem Auto stieg und sich Claude de Givray und Bernard Revon näherte, probte ich eine Szene mit Richard Leduc, der, als er Truffaut erkannte, Augen so groß wie Untertassen bekam ! Er konnte es nicht glauben und verstand nichts von dessen Anwesenheit. Ich selbst hatte große Schwierigkeiten, mich auf meine Rolle zu konzentrieren, weil ich so gerührt und glücklich war. Das war die schönste aller Überraschungen, das schönste aller Geschenke! Wir fuhren gemeinsam in seinem Peugeot-Coupé nach Paris zurück, lachten und schmiedeten Pläne für die Zukunft. Das Leben war schön; ich wusste jetzt, dass der Mann, den ich bewunderte und liebte, verrückt nach mir war.“

Claude Jade und François Truffaut 1968 während der Dreharbeiten zu „Baisers volés“

Claude ist überglücklich. Sie wagt noch nicht, ihren Eltern Mitteilung zu machen und telefoniert mit Luce Garcia-Ville, die mit Sacha Pitoëff nach Dijon reisen wird, um die Eltern mit dieser Nachricht zu überraschen. (mehr zur Verlobung, den Heiratsplänen und der von François brüsk abgesagten Hochzeit unter „Baisers volés“)

Nachdreh

Mit den Mai-Protesten, deren Vorboten die Demonstrationen im Februar 1968 für Henri Langlois während der Arbeit an „Baisers volés“ waren, wurden auch die Dreharbeiten zu „Mauregard“ unterbrochen. Die Hochzeit ist abgesagt, François hat Claude seinem Freund Alfred Hitchcock empfohlen und sie dreht bereits in Hollywood. Am Tag der Unterzeichnung mit „Universal“ bei einem Essen im „Le Doyen“, wo sie die Toilette aufsucht, vermisst sie fünf Minuten später ihren Ring, den François ihr zur Verlobung geschenkt hatte. Der Verlust wirkt wie ein Zeichen. Als Truffaut später davon erfährt, kauft er ihr das gleiche Exemplar nochmals.
Für ausstehende Szenen von „Mauregard“ reist Claude aus den USA kurzzeitig nach Paris. Auch ihr „Topas“-Ehemann Michel Subor übernimmt nach dem terminlichen Ausfall des Schauspielers Jean-Marc Bory eine Rolle in der Saga, in späteren Folgen ist er Françoises Neffe Charles Auguste. In jenen Tagen wird unter anderem ein Ausritt im Wald von Vincennes gedreht, bei dem die Helden Maxence und Françoise vom Pferd fallen und sich hernach lachend im Gras wälzen. Auf einem rollenden alten Citroen 2 CV, einer „Ente“, an der Maschinisten rütteln, wird die Illusion geschaffen, Françoise und Maxence würden reiten. Diese folkloristische Art des Drehens für eine Fernsehproduktion steht in ihrer Einfachheit im krassen Gegensatz zum amerikanischen Luxus einer Hollywood-Produktion. Während des Aufenthalts lernt Claude auch Jean-Claude Dauphin kennen, ihren neuen Partner im Leben und im Film „Le témoin“, den sie im Anschluss an „Topaz“ und „Mauregard“ dreht.