55 Jahre Sommernachtstraum 1969 – Avertys Le songe d’une nuit d’éte

ab heute in der Filmographie:
LE SONGE D’UNE NUIT D’ÉTÉ (EIN SOMMERNACHTSTRAUM)
Am Weihnachtsabend 1969 hatte „Le songe d’une nuit d’été“ seine Premiere. Le Monde erklärt den TV-Film zum „chef-d’œuvre“ und France Soir spricht von einem epochalen Datum und einer Revolution in der Geschichte der Regie. Jean-Christophe Averty hatte den „Sommernachtstraum“, der zwei Jahre später auch in Deutschland ausgestrahlt wurde, mit neuer Videotechnik inszeniert. Dass der zumeist charmante und höfliche Perfektionist bei diesem aufwendigen Dreh bei einem seiner Wutausbrüche eine Kamera zerbrach, amüsierte die Beteiligten eher. Claude Jade, gerade ein Kinostar, möchte dem Theater treu bleiben, denn sie wollte Schauspielerin werden, weil sie Worte liebte. So ist Avertys Film für sie in der Hauptrolle der Helena und ihre Partner wie Jean-Claude Drouot und „Nscho-tschi“ Marie Versini ein willkommenes Experiment, das gelingt.

Shakespeare für Claude Jade, Marie Versini, Jean-Claude Drouot, Christiane Minazzoli, Christine Delaroche, Michel Tureau, Michel Ruhl und Dominique Serina

Shakespeare für Claude Jade, Marie Versini, Jean-Claude Drouot, Christiane Minazzoli, Christine Delaroche, Michel Tureau, Michel Ruhl und Dominique Serina

Maurice Clavel nennt den Film in der Neujahrsausgabe des Nouvel Observateur eine vollkommen harmonische und ästhetische Wissenschaft und vergleicht den Bilderrausch auf dem Fernsehschirm mit einer Galaxie. Clavel spricht auch Hauptdarstellerin Claude Jade einen gewissen Anteil am Erfolg zu: „Man ist sich rasch sicher, dass Mademoiselle Claude Jade zum Sprechen keine Atempause braucht; sie agiert so schnell, dass man zu der Überzeugung gelangt, sie habe das Atmen über ihr Spiel vergessen. Und gerade das trägt erheblich bei zum Wunder dieses Films.“

Zur deutschen Erstausstrahlung heißt es beim WDR: „Averty, dem eher ein Zuviel als ein Zuwenig an Einfällen vorzuwerfen wäre, hat eine bunte Phantasmagorie geschaffen, vor der Kategorien wie Kunst, Kunstgewerbe oder Kitsch versagen.“

Ab heute ist „Ein Sommernachtstraum“ zum 55. Jahrestag neu in der FILMOGRAPHIE

und zugleich verlinkt auf der neuen Seite THEATER UND THEATER-ADAPTATIONEN

Le songe d’une nuit d’été

Vor einem Jahr war übrigens der 30. Jahrestag der deutschen Weihnachtspremiere von  Gabi Kubachs Vicki-Baum-Verfilmung „Rendez-vous in Paris“.

neu in der Filmographie: Le collectionneur de cerveaux – Schach dem Roboter

Während arte die Truffaut-Filme mit Claude Jade gratis in der Mediathek präsentiert, ist „Le collectionneur de cerveaux“ in Frankreich bei madelen des INA und in Deutschland als „Schach dem Roboter“ bei amazon Prime und Chili im Streaming zu sehen.

Le collectionneur de cerveaux – Schach dem Roboter

1975 dreht Claude Jade diesen Film in der zweimonatigen Drehpause des großen japanischen Films „Kita no misaki“. Der Film, der anfangs „Robots pensants“ hieß, basiert auf einer Erzählung von George Langelaan. Die Pianistin Penny Vanderwood (Claude Jade) folgt der Einladung ihres Bewunderers Comte de Saint-Germain (André Reybaz) zum Turnier mit einem Schachroboter. Sie erkennt in dessen Zügen jene ihres verstorbenen Verlobten. Wenig später entdecken Penny und ihr Freund Lewis (François Dunoyer), dass dessen Sarg leer ist. Und der Comte will einen Klavierroboter erschaffen …
Dank der Adaptation durch den Science-Fiction-Spezialisten Michel Subiela wird der Film zu einem TV-Klassiker.

Noch ahnt Penny nichts von den Plänen des Comte de Saint-Germain

„Als Star des Films sind Sie die Pianistin“, wird sie in der Sendung „Normandie Actualités“ Ende November 1975 befragt. „Ich hoffe es hilft, dass ich in meiner Kindheit Klavierunterricht hatte, doch neben der Pianistin gibt es einen anderen Aspekt an der Rolle, der mich noch mehr reizt. Ich habe schon immer davon geträumt, mal in einem Science-Fiction-Horror-Film zu spielen.“

Hier mehr zu „LE COLLECTIONNEUR DE CERVEAUX“, der im Kino zuletzt 2022 in Paris auf dem L’Étrange Festival und 2017 in Ungarn als „Gondolkodó robotok“ zur Hauptsendezeit lief und in Frankreich und Deutschland auf DVD erhältlich ist.

Was wurde aus der kleinen Virtuosin Marianne Piketty aus Domicile conjugal ?

In „Domicile conjugal“ (Tisch und Bett) verdient Claude Jade als Christine Doinel das Geld mit Geigenunterricht. Doch die Mutter einer begabten Schülerin vergisst immer, die Stunden zu bezahlen. Der Familienrat bei Christines Eltern hatte beschlossen, dass, wenn die Mutter wieder die Stunden nicht zahlen sollte, Christine eine mit Antoine vereinbarte Melodie – die Marseillaise – spielen soll und er die Mutter im Hof abfängt. Die Schülerin Marianne spielte die siebenjährige Marianne Piketty.

Claude Jade, Marianne Piketty und Annick Asty in François Truffauts „Domicile conjugal“ (Tisch und Bett)

Lucien Darbon (Daniel Ceccaldi) hatte Marianne „die kleine Virtuosin, die besser spielt als du“ bezeichnet. Claude Jade erinnert sich 2001 bei den Audiokommentaren an Marianne Piketty: „Das kleine Mädchen wurde wirklich Geigerin. Sie war sehr talentiert.“ Als sie Marianne im Film spielen sieht, sagt sie „Die Kleine war schon sehr erstaunlich. Von einer unglaublichen Ernsthaftigkeit.“

Marianne Piketty ist längst eine international gefeierte Violinistin.  Als Antoine die Mutter abfängt, sagt er der kleinen Marianne, sie spiele bereits so gut, dass sie bald Madame Doinel Unterricht geben könne – „Du gibst ihr Stunden und sie bezahlt sich dafür“.  Und Marianne Piketty ist heute nicht nur eine international gefeierte Künstlerin und zudem Professorin am Conservatoire National Supérieur de Musique in Lyon. Sie gibt regelmäßig Meisterkurse in Frankreich und im Ausland. Die Berliner Universität der Künste beschreibt sie 2024 als eine charismatische und unverzichtbare Künstlerin, die sich durch außergewöhnlichen Unternehmungsgeist, unerschöpflichen Drang nach neuen Begegnungen und Aufführungen auszeichnet – stets mit dem Wunsch, zu teilen, im Geist des Kollektivs: „Präzision und die Bereitschaft, über sich hinauszuwachsen, sind die Grundsätze einer Geigerin, die ihr Instrument im Laufschritt spielt – im Rhythmus einer Athletin.“

Marianne Piketty 1970 in „Domicile conjugal“, aktuelles Foto der Violinistin von Bernard Martinez.

Marianne Piketty : „Ich habe das Glück, schon in jungen Jahren prägende Erfahrungen gemacht zu haben, die mich für die Bühne begeisterten. Mit sieben Jahren trat ich mit Orchester in der Salle Pleyel auf und drehte mit François Truffaut den Film „Domicile conjugal“. Nach meinem Studium am CNSM in Paris ging ich zehn Jahre lang in die USA, um meine Ausbildung an der Juilliard School und bei Itzhak Perlman fortzusetzen.“  Sie gab ihr viel beachtetes Debüt in der Carnegie Recital Hall, folgte der Einladung Yehudi Menuhins, das Brahms Violinkonzert unter seiner Leitung zu spielen und wurde Solistin seiner Stiftung. Der Rest ist Konzertgeschichte.

Claude Jade selbst nahm auf François Truffauts Wunsch kurz Geigenunterricht: Sie selbst habe nach dem Lernen der Tonleiter in erster Linie nur Klavier gespielt und nahm Geigenunterricht, um die Finger zu setzen und den Bogen halten zu können.  Claudes Vater kontaktiert eine Dame, Professorin am Konservatorium in Dijon. „Zunächst musste ich wissen, wie ich mein Instrument und meinen Bogen richtig halten sollte. Dann lernte ich, wie man eine Tonleiter aufstellt und wie man seine Finger auf die Saiten legt. Es war schrecklich, dass ich der armen Geige nur ein herzzerreißendes Miauen entlockte. Meine Lehrerin hielt mich für „begabt“. Sie war nicht wählerisch. “
Neun Jahre später, in „L’amour en fuite“, muss Antoine den Sohn Alphonse zum Bahnhof bringen, weil Christine als Geigenlehrerin Prüfungen am Konservatorium, am Conservatoire national supérieur de musique et de Danse de Paris (CNSMDP) hat, wo die echte Marianne Piketty studiert hatte. Bei der Entstehung des letzten Doinel-Films dürfte sie erst 15 gewesen sein, so alt wie Claude, als sie am Conservatoire de Dijon begann.

Mariannes Mutter wird von Anik Asty gespielt, die in „Geraubte Küsse“ die Bordellkassiererin war und in „Auf Liebe und Tod“ die Kinokassiererin sein wird.

Anik Asty-Belaubre bei François Truffaut: als Bordellkassiererin in „Baisers volés“, als Mariannes Mutter in „Domicile conjugal“ und als Kinokassiererin mit Fanny Ardant in „Vivement Dimanche !“

Anik Asty, die sich ab Mitte der 1970er Jahre Anik Belaubre nennt, hat im François-Truffaut-Universum in ihren drei Rollen mit Geld zu tun, zweimal als professionelle Kassiererin: In „Baisers volés“ kassiert sie Zimmergeld und Spenden für eine erkrankte Kollegin. In „Vivement Dimanche !“ kassiert sie im Kino, das einem Puffbesitzer gehört. An ihrem Ende taumelt sie wie Daniel Gélin in Hitchcocks „Der Mann der zuviel wusste“ mit Messer im Rücken zurück an ihr Kassenhäuschen, ermordet von Philippe Laudenbach als Maître Clément. Dazwischen spielte sie in einem weiteren Film mit Claude Jade, „Fou comme François“. Sie wird im Abspann bereits Anik Belaubre genannt. Der Film entsteht 1976 in Marseille, wo sie ein Jahr zuvor auch am Theater gespielt hat: noch als Anik Asty in „Elle est pas belle la vie ?“ von Richard Martin.

Anik Asty Belaubre in den Truffaut-Filmen „Geraubte Küsse“, „Tisch und Bett“ und „Auf Liebe und Tod“

Marianne Piketty hatte 1970 einen ausgezeichneten Start parallel zur Salle Pleyel, die Truffaut in „L’amour à vingt ans“ filmte. Sie spielte ihr „kleines Konzert“, wie Christine es im Film nennt, bei einem Mann, der ein Vorbild in der Verbindung von Kunst und Unterhaltung ist, mit seiner Mischung aus Emotion und Reflexion sowohl Cineasten als auch das breite Publikum zu erreichen, ohne dabei den ästhetischen Anspruch zu opfern. Eben dies will Marianne Piketty, wenn sie Klassische Musik allen zugänglich machen will wie bei ihrem 2013 versammelten Ensemble Le Concert Idéal.
Bis zum 2. Februar 2025 können wir die Anfänge der Violinistin und Professorin Marianne Piketty auf Arte sehen. Der deutsch-französische Kultursender ARTE schrieb 2006 über ihre erste Zusammenarbeit mit dem Akkordeonisten Pascal Content für eine CD: “Zusammen sind sie bahnbrechend, transkribieren und geben neue Werke in Auftrag, bauen ein Repertoire auf. Marianne Piketty und Pascal Contet schicken uns auf eine Reise und erlauben uns vor allem zu träumen. Dies ist so rar heutzutage, sodass wir ihnen nicht genug dafür danken können.“
Mehr zu Marianne Piketty auf ihrer Homepage.

Hier noch bis zum 1. Februar 2025: „Domicile conjugal“ (Tisch und Bett) in der Arte Mediathek

Marianne Piketty mit Claude Jade in François Truffauts „Domicile conjugal“, heute eine gefeierte Violonistin. (aktuelle Fotos Bernard Martinez)

 

18. Todestag Claude Jade

Am 1. Dezember 2006 starb Claude Jade. In Trauer neben Familie und Freunden auch die Filmwelt. Kulturminister Donnedieu de Vabres nahm Abschied von der „Inkarnation des Charmes und der Eleganz Frankreichs“.
Heute würde sie die „délicieuse vieille dame“ spielen, „indigne de préférence“. 
18 Jahre nach ihrem Verschwinden hält Arte in Frankreich und Deutschland die Erinnerung an die Schauspielerin in der Mediathek mit zwei Filmen wach, die bis zum 1. Februar 2025 dort frei verfügbar sind. 

Am heutigen Todestag die Worte von Véronique Cayla, damals Vorsitzende des Centre national de la cinématographie und Ex- Präsidentin von Arte.

Mit großer Trauer habe ich vom Verschwinden von Claude Jade erfahren.
Sie war eine große und schöne Schauspielerin, die vor allem in den Filmen von François Truffaut, der sie entdeckt hatte, die diskrete Anmut der jungen französischen Frau repräsentierte.
Heute zolle ich einer Schauspielerin von zärtlicher Leuchtkraft Tribut, einer Frau, die sich stets einen klaren Blick auf ihren Beruf bewahrt hat, und ich spreche ihrer Familie und ihren Angehörigen mein aufrichtiges Beileid aus.

Arte bewahrt jene „zärtliche Leuchtkraft“ und nahm bereits im Oktober die drei Filme von François Truffaut in die Mediathek auf.  Die „Baisers volés“ sind vorerst „Baisers envolés“, doch bis Ende Januar 2025 sind weiterhin „Domicile conjugal“ (Tisch und Bett / Das Ehedomizil) und „L’amour en fuite“ (Liebe auf der Flucht) auf Arte online.

Arte, der Sender, der zuletzt auch Hitchcocks „Topas“ ausstrahlte und die Dokumentationen „François Truffaut, l’insoumis“ von Alexandre Moix und „Jean-Pierre Léaud, Truffauts Alter ego“ von Cyril Leuthy, in denen Claude Jade zu sehen war, machte die Kultserie „L’île aux trente cercueils“ (Die Insel der dreißig Särge) als „Die Insel der dreißig Tode“ mit Claude Jade als couragierter Heldin Véronique d’Hergemont 1996 auch in Deutschland bekannt.

Arte machte „L’île aux trente cercueils“ auch in Deutschland bekannt.



weiterhin in der Arte Mediathek: Tisch und Bett (Domicile conjugal)

weiterhin der der Arte Mediathek: Domicile conjugal (Tisch und Bett)

Für „Domicile conjugal“ erhielt Claude Jade im Dezember 1970 den Prix Révélation du cinéma, dem Vorgänger des Meilleur Espoir von Georges Cravennes César, jenem Filmpreis, dem die bisherige Arte-Präsidentin Véronique Cayla heute vorsteht.


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