John McEnery 1943 – 2019

der Unvorhersehbare: John McENERY (1943-2019)

 

Claude Jade, John McEnery

Der Olivier in Gérard Brachs „Le bateau sur l’herbe“, ein reicher unglücklicher zarter verrückter Mann von unbändiger Unvorhersehbarkeit, war seine größte Filmrolle. Unvorhersehbarkeit zeichnete das Spiel John McEnerys aus. „Mitreißend, bebend, beschwingt, neurotisch und unberechenbar“, beschreibt Gilbert Salachas seine Mimik und Attitüden in „Le bateau sur l’herbe“.

„Haben Sie keine Angst! Ich bin kein Dieb.“

In seinem Pariser Appartment überrascht Olivier (John McEnery) die junge Eleonor (Claude Jade), die neue Freundin seines Freundes David (Jean-Pierre Cassel). Er nimmt sie mit auf sein Grundstück, wo er mit David ein Schiff baut – und verprügelt gleich bei der Ankunft den jungen Liebhaber (Jean de Coninck) seiner Mutter (Valentina Cortese).

John McEnery, Claude Jade und Jean de Coninck: Le bateau sur l’herbe

Eruptiv: Olivier präsentiert Eleonor den Liebhaber seiner Mutter

Jean-Pierre Cassel (David), Claude Jade (Eleonor), Olivier (John McEnery)

Eleonor will gehen, doch Olivier bittet sie, zu bleiben. Eleonor richtet sich ein, doch als David erwägt, wegen Eleonor die Reise abzusagen, meint Olivier, eine Gonzesse (Tussi) wie Eleonor fände er überall. Sie hört es, schmiert am nächsten Morgen mit Lippenstift „La gonzesse est partie“ auf ihr Laken und verlässt – vorerst – das Anwesen.

John McEnery als Olivier und Claude Jade als Eléonor in „Le bateau sur l’herbe“

Olivier will Eleonor zu seinem Freund zurückbringen und stoppt den Wagen, mit dem sie per Anhalter verschwinden wollte. „Sie entführen meine Frau.“ – „Hören Sie nicht auf ihn. Ich bin nicht seine Frau.“ – „Und Mutter einer Familie.“ – „Fahren Sie! Schnell!“ – „Wollen Sie, dass ich die Polizei rufe?“ – „Aber ich kenne Madame doch gar nicht.“ – „Ich kenne sie… Steig aus, ich verzeihe dir.“ – „Ich bleibe… Das ist doch verrückt.“ – „Hören Sie, Madame, steigen Sie aus, gehen Sie mit ihrem Mann!“ – „Siehst du, der Herr ist sehr vernünftig.“ – „Verlassen Sie jetzt bitte mein Auto!“. Eléonore zerkratzt sich beim Aussteigen die Schulter und nennt den Fahrer „Alte Walnuss“.

Jean-Pierre Cassel, Claude Jade, John McEnery

Der Olivier fügt sich ein in McEnerys weitere wichtigste Arbeiten fürs Kino: Da ist der „Bartleby“ in der Herman-Melville-Verfilmung über den Schreibgehilfen, der sich in einem Büro seinen Aufgaben und allem Konventionellem verweigert. Der Spott und das lange Sterben seines Mercutio in Franco Zeffirellis „Romeo und Julia“ brachte ihm eine Nominierung für den BAFTA: Kraftvoll und wütend bäumt er sich nach Michael Yorks unabsichtlichem Todestoß auf und hält seine Tirade wie einen Scherz, als sei er unverwundbar. McEnerys Verletzlichkeit und Zärtlichkeit werden im Film oft gesprengt von jähen Wutausbrüchen, die er sogleich wie ein Clown beeenden und darüber lachen kann.

„Er war ein Schauspieler, den man nicht anschauen konnte, ohne zu bemerken, wie gut er war – und dabei gefährlich wie eine tickende Zeitbombe“, heißt es im Nachruf im „Guardian“.

Vor einem Jahr wurde McEnery angeklagt, eine Kellnerin mit einer Waffe bedroht zu haben. Vor Gericht stellte sich heraus, dass er sie auf ihre Ähnlichkeit mit Katharine Hepburn hinwies und der Dame dieser Name nichts sagte. Daraufhin zog er eine Wasserpistole und richtete sie auf die Bedienung. In „Le bateau sur l’herbe“ ist es ein Gewehr, mit dem er an Claude Jade vorbeispaziert und es später auf sie richtet. Für McEnerys Olivier ein Spiel.

John McEnery und Claude Jade

Claude Jades Eleonor weist ihn in die Schranken. Wenn er eines Morgens unvermittelt bei ihr auftaucht und am Bett kniet, verlangt sie nach einem Croissant, wirft er sich ihr vor die Knie, soll er „aufhören, den Clown zu machen“ und befragt er sie zu ihren Wünschen, sagt sie „Es reicht mit dem Verhör.“

Eleonor: „Du kannst aufhören den Clown zu machen… Du hast Angst.“

Als Eleonor ihn fragt, ob er mit ihr schlafen würde, entgegnet er: „Absolut nicht“. Die Kränkung, dass er sie gegenüber David eine „Gonzesse“ nannte, nimmt sie ihm übel und löst damit ohne böse Absicht mit einem Scherz ein tragisches Ende aus.

Anders als Eleonor kann sich Paul Scofields Buchhalter McEnerys „Bartleby“ nicht erwehren, der das Büro in Beschlag nimmt und sich allen Regeln verweigert. Als Samantha Eggars einziger Vertrauter in Anatole Litvaks französisch-englischem Komplott-Thriller „Die Dame im Auto mit Brille und Gewehr“ ist er sanft, bis auch er an die Schuld der Heldin glaubt und sie wütend an den Schultern packt: „You know what? Just for one minute in my stinking life you made me feel something for somebody.“ Dann stößt er sie von sich auf den Boden und verlässt sie. Ein Temperament, das auch seine Rolle des Philippe unberechenbar macht.

Er war anders als sein hübscher und berühmterer Bruder Peter McEnery ein intuitiver Schauspieler, der Reibung bot: groß und sehr hager, unter struppigem blonden Haar durchringend blaue Augen, er wirkte gleichgültig oder ließ eruptiv seine unterdrückten Gefühle heraus. Seine Stimme war shakespearesk und kratzig, gleichzeitig konnte er sanft sein. Brach war bei „Le bateau sur l’herbe“ klug genug, nur zwischen den beiden Männern Zärtlichkeit zu zeigen – Claude Jade kommt als Invasorin in diese Liebesbesziehung zwischen dem reichen Olivier und seinem Angestellten David. Als dieser nimmt sich der sonst temperamentvolle Jean-Pierre Cassel geschickt zurück neben dem wechselhaften McEnery. Claude Jade und John McEnery beschwören aus ihren Lebensmotiven heraus das Drama. Sie, weil sie dazugehören will, er, weil er flüchten will und das nur mit David.

Seine Karriere begann ähnlich wie die des drei Jahre älteren Bruders Peter am Theater. John nahm 1962 nach einer Arbeit in einem Schreibwarenladen Unterricht am Bristol Old Vic, als Peter gerade der große Star bei Peter Hall am New Royal Shakespeare Company (RSC) war.

„I name this ship Eleonor. May God bless her and all who sail in her.“

Johns erstes Engagegement war 1964 im neu gegründeten Everyman-Theater in Liverpool, wo er drei Jahre blieb. Danach trat er in das Nationaltheater des Old Vic ein und spielte 1967 in der Uraufführung von Tom Stoppards „Rosencrantz and Guildenstern Are Dead“ den Hamlet. Den Hamlet-Monolog gibt er auch an Bord des Schiffs auf der Wiese, Claude Jade applaudiert ihm – er hat es verdient – und singt später mit ihm „God save the Queen“. Auch das Boot muss Eleonor in englischen Worten taufen: „I name this ship Eleonor“.

John McEnery gibt für Claude Jade und Jean-Pierre Cassel den Hamlet

John McEnery gibt für Claude Jade und Jean-Pierre Cassel den Hamlet

Andere bemerkenswerte neue Stücke am National Theatre waren Peter Shaffers „The Royal Hunt of the Sun“, in dem er neben Robert Stephens und Derek Jacobi den Garcia spielte und Laurence Oliviers Produktion von „Love´s Labour’s Lost“ (Verlorene Liebesmüh), in dem er sehr witzig das kluge Landei Costard gab, einen der besten Narren Shakespeares, der Wörter erschafft, darunter das längste in dessen Werk: honorificabilitudinitatibus.

1968 macht ihn Zeffirellis Shakespeare-Verfilmung „Romeo und Julia“ zum Star. „Bartleby“ und „Le bateau sur l’herbe“ festigen den Ruhm. Seine letzte Kino-Hauptrolle hat er 1974 im Abenteuerfilm „Caprona – Das vergessene Land“ und in der BBC-Serie „Our Mutual Friend“ nach Charles Dickens letztem Roman spielt er 1976 die Hauptrolle des John Harmon-Rokesmith. In Nottingham kehrte er zu „Rosencrantz und Guildenstern“ zurück und übernahm mit seinem Bruder Peter die Titelrollen. Als er mit Stephanie Beacham in Pinters „The Homecoming“ auftrat, heiratete er sie 1973. Nach der Scheidung blieben sie befreundet.

Beacham erklärte, dass John jeden Morgen das Leben neu erfinden wollte. So wie McEnery, im Privaten ein Hellraiser, erscheint auch sein Olivier in „Le bateau sur l’herbe“. Der reiche Sohn einer Mutter, die sich mit Gigolos umgibt, die jünger als Olivier sind, will mit dem Boot fliehen.  Doch es gibt kein Entkommen. Die drei Protagonisten Olivier, David und Eleonor werden nie die Osterinseln erreichen wie Tschechows „drei Schwestern“ nie in Moskau ankommen.

Als die drei Stars in Cannes ankamen und die Fotografen riefen „Claude! Jean-Pierre ! John !“, schrieb Nice Matin, „Le bateau“ sei der beste Beitrag des Festivals. Er gewann keinen Preis. Doch Kritikerlob:
„John McEnery stößt an die äußersten Grenzen der Interpretation, was bedeutet, dass sie allen Freiheiten entspricht: Um sich auszudrücken, indem man sich selbst aus dem Weg geht. Um die Angst vor den wahren Gefühlen zu spüren, wird er zu seinem eigenen Regisseur. Auf der Bühne seiner Capricen versteht er sich ein gelernter Organisator eines ewigen Wahnsinns.“
Am 12. April starb John McEnery.

 

Ein Kommentar zu “John McEnery 1943 – 2019

  1. Pingback: 73. Geburtstag Claude Jade – Link zu „Le bateau sur l’herbe“ | Mémoire de Claude Jade

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