Ann Petersen

Ann Petersen (1927-2003) und Claude Jade in Benoit Lamys „Home Sweet Home“

Heute vor 14 Jahren starb Ann Petersen.
14 internationale Auszeichungen erhielt „Home Sweet Home (Trautes Heim)“, der Film, der  sie als diktatorische Leiterin des Altenheims weltweit bekannt machte. Ann Petersen starb an Diabetes. Für Leute, die sie kannten, sei dies keine Überraschung gewesen: dass ihr Süßigkeiten nicht bekommen, wusste sie. In seinem Portrait zu Petersens Tod vor 14 Jahren erinnerte sich „Nieuwsblad“-Autor Paul Demeyer, dass sie dennoch beim Interview ein Törtchen mit drei Bissen verschlang. Es war Petersens Entscheidung.

Ann Petersen als Heimleiterin in „Home sweet Home“

Schlimm trieb es ihre Direktorin in dem berühmten Film von Benoît Lamy: Sie hortet Vorräte der Heiminsassen, darunter auch Naschwerk. Vor allem jene Szene, in der sie dem renitenten Jules seinen Pudding aus der Hand schlägt und dann den anderen Heimbewohnern erklärt, dass Jules nun keinen Nachtisch bekomme, macht Petersen für das belgische Kino unsterblich. Im Zuge eines Hungerstreiks für den vom Dessert ausgeschlossenen Jules durchschreitet dann die von Ann Petersen Filmpartnerin Claude Jade gespielte Claire den Speisesaal wie ein Wachsoldat. Es ist ein Machtkampf, den Claire in dieser Vorbereitung der Alten zum finalen Aufstand verliert.

Ann Petersen, Claude Jade und Marcel Josz als Jules in Benoît Lamys „Home Sweet Home“

Der Aufstand der Alten ist, da die von Ann Petersen gespielte Direktorin mit dem Polizeichef Hand in Hand arbeitet, auch ein Aufstand gegen eine Art Polizeistaat. Die Direktorin ist erst Chefin und dann Gegnerin der von Claude Jade gespielten Pflegerin Claire.
Anfangs beobachtet Claire, wie die Direktorin ihre Macht missbraucht und hilft ihr sogar. Erst als Claire die Folgen ihrer Denunziation des Sozialhelfers Jacques (Jacques Perrin) bei der Direktorin erkennt, wandelt sie sich und holt Jacques zurück.

Claude Jade und Ann Petersen in „Home Sweet Home“ (Trautes Heim, 1973)

Lustiger und leichter als „Einer flog über das Kuckucksnest“ beschreibt Benoît Lamys Erstlingswerk den Kampf für die Freiheit und das Recht auf Würde. Nach der Revolte wird die Despotin fortgeschickt und das alte System wird durch ein demokratisches ersetzt. Claude Jade lässt die Hände in den Schürzentaschen ihrer Schwesterntracht, während Ann Petersen ihr Gepäck kaum tragen kann.

Jacques Lippe als Polizeichef (l), Jacques Perrin als Jacques (2.v.l.) mit Claude Jade und Ann Petersen

Neben „Home sweet Home“ war Ann Petersen für Regisseur Benoît Lamy auch die Gegenspielerin Annie Girardots in „Ardenner Schinken“. Für ihre Leistung in „Das Sakrament“ erhielt die 1990 den Joseph Plateauprijs  als Beste Darstellerin. Von 1996 bis zu ihrem Tod spielte Ann Petersen in der Serie „Thuis“. Zwei Jahre vor ihrem Tod, sie war 75, sprach sie mit Paul Demeyer über das D-Wort, De Dood, den Tod: „Vielleicht ist er schon da. Für mich oder für dich. Und wenn es für mich ist, dann werde ich gerne mitgehen. Ich möchte auf der einen Seite einhundert werden, auf der anderen Seite bin ich bereits zufrieden. Es hat gereicht. Alles für dieses Leben. Aber dann kommt etwas Neues. Da bin ich mir sicher.“

Claude Jade und Ann Petersen in „Home sweet Home“ (Trautes Heim)

Jacques Perrin 75

Jacques Perrin (links), Ann Petersen und Claude Jade in „Home sweet Home“

home_sweet_home_poster_la_fete_a_jules_claude_jade_Jacques_perrin„Es gibt keine schwierigen Themen im Film. Wenn wir es schaffen, für sie die richtige Form zu finden, werden alle Filme für ein großes Publikum bestimmt sein.“ Jacques Perrin spielte nicht nur mit Claude Jade in Benoît Lamys fulminantem Debütfilm „Home Sweet Home“ das junge Paar unter größtenteils mit Laien besetzten Altersheimbewohnern; er war auch Koproduzent des vielleicht nur im Arbeitstitel schwierig erscheinenden Themas: „Traité de savoir-vivre à l’usage des vieilles générations“.
Wer wollte 1973 schon einen Film über alte Menschen produzieren; nicht sexy genug, Leute ins Kino zu locken? Jacqueline Pierreux und Jacques Perrin machten sich stark.

Claude Jade und Jacques Perrin in "Home Sweet Home" (Trautes Heim)

Claude Jade und Jacques Perrin in „Home Sweet Home“ (Trautes Heim)

affiche_Poster_Home_sweet_Home_affiche_bombe_benoit_lamy_claude_Jade_Jacques_Perrin„Alte Leute inszenieren eine Revolution. Ein Unterhaltung und Sozialkritik geschickt verbindendes Erstlingswerk, ebenso ironisch und heiter im Stil wie originell im Stoff“, lobt das Filmlexikon den Film, der 14 Preise weltweit einheimste.
Produzent wurde Perrin vier Jahre zuvor. Er war bereits ein Star, hatte Auszeichnungen erhalten und war abonniert auf den schönen Unschuldigen. 1969 spielte Jacques Perrin in Costa-Gavras‘ bahnbrechendem Politthriller „Z“ den couragierten Journalisten. Costa-Gavras brauchte einen Produzenten für den brisanten Stoff und Perrin gründete die Firma Reggane. Der Rest ist Filmgeschichte.

Perrin in seiner Lieblingsrolle: als Maxence Françoise Dorléac in "les demoiselles de Rochefort"

Jacques Perrin in seiner Lieblingsrolle: als Maxence mit Françoise Dorléac in „Les demoiselles de Rochefort“

"Z" - Regisseur Costa-Gavras mit Star und Produzent Jacques Perrin

„Z“ – Regisseur Costa-Gavras mit seinem Schauspieler und Produzenten Jacques Perrin

Fortan produzierte er politisch linke Filme wie „La guerre d’Algérie“ und suchte auch seine Rollen in diesem Genre: In „Der unsichtbare Aufstand“ und „Sondertribunal“ war er sowohl Schauspieler als auch Produzent.

Claude Jade kämpft 1982 als Anwältin um „die Ehre eines Kapitäns“ (Jacques Perrin)

L'honneur d'un capitaine, film 1982, Pierre Schoendoerffer, Jacques Perrin, Nicole Garcia, Charles Denner, Georges Wildon, Claude Jade, Robert Etcheverry, Georges Marchal, Jean-Francois Poron, Christophe Malavoy, Patrick Chauvel, Hubert Gignoux, Jean Vigny, Guerre, Algerie, film de procés,So führte ein weiterer politischer Film erneut Jacques Perrin und Claude Jade zusammen: Pierre Schoendoerffers „L’honneur d’un capitaine“ . Als Anwältin Valouin kämpft sie mit einer Witwe (Nicole Garcia) gegen die Verleumdung eines 25 Jahre zuvor im Algerienkrieg gefallenen Hauptmanns (Perrin). Sie hatten dem Sujet entsprechend keine gemeinsamen Szenen mehr.
2005 ließen sich Claude Jade und Jacques Perrin für die DVD-Veröffentlichung des Meilensteins des belgischen Kinos interviewen. „Home sweet Home“ bleibt es wundervolles Manifest für die Freiheit und die Revolte.

Jacques Perrin und Claude Jade im preisgekrönten "Home Sweet Home"

Jacques Perrin und Claude Jade im preisgekrönten „Home Sweet Home“

Claude Jade und Jacques Perrin 2005 in Interviews zu "Home sweet Home"

Claude Jade und Jacques Perrin 2005 in Interviews zu „Home sweet Home“

Claude Jade und Jacques Perrin in "Home sweet Home"

Claude Jade und Jacques Perrin in „Home sweet Home“

„Casă, dulce casă“ (Home Sweet Home)

Mehr zu Jacques Perrin, der heute seinen 75. Geburtstag feiert, und zu Claude Jade in Benoît Lamys „Trautes Heim“ finden Sie hier:
„Home Sweet Home – Trautes Heim“

Home sweet Home

„Protest ist nicht das Privileg der Jugend“ (Jo Röpcke, Filmkritiker, 1928-2007)

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Trautes Heim (Home sweet Home / La fête à Jules)
Belgien/Frankreich 1973, R: Benoît Lamy
D: Claude Jade (Claire, Pflegerin), Jacques Perrin (Jacques, Sozialhelfer), Marcel Josz (Jules), Ann Petersen (Yvonne, Direktorin), Jacques Lippe (Polizeichef), Jane Meuris (Flore), Elise Mertens (Anna), Dynma Apelmans (Marguerite) u.v.a.

inzwischen in der Filmographie: Home sweet Home (Trautes Heim)

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Einer ihrer noch immer im Kino aufgeführten Filme ist „Home sweet Home“, der zuletzt im Januar 2014 in Brüssel lief; davor 2007 in Paris („Hommage à Claude Jade“) und in Deutschland im selben Jahr auf dem Filmfest Hamburg. Das deutsche Fernsehen vernachlässigt das Werk dafür seit mehr als zwanzig Jahren:  In der Reihe „der besondere Film“ hatte es 1975 als „Trautes Heim“ seine Erstausstrahlung im ZDF und lief zuletzt 1991 auf Pro Sieben.

Claude Jade, Marcel Josz "Home sweet Home"

Claude Jade, Marcel Josz „Home sweet Home“

Eine flamboyante Ohrfeige ins Gesicht zahlreicher filmische Versuche, alte Menschen in ihrem sozialen Dilemma zu zeigen, ist diese Komödie um einen Aufstand der Bewohner eines Pflegeheims, zu dessen Personal Claude Jade und Jacques Perrin gehören.

Claude Jade, Jacques Perrin, Jane Meuris, Marcel Josz, Home sweet Home, La fete à Jules, Trautes Heim, Benoît Lamy, 1973, film belgeGefeiert auf den Filmfestivals in Budepest (Preis für beste Regie), Moskau (Spezialpreis der Jury), Cannes, Montreal und Teheran, heimste „Home sweet Home“ weltweit stolze 14 Auszeichnungen ein.
Das Lexikon des Internationalen Films resümiert: „Alte Leute inszenieren eine Revolution gegen ihre autoritäre und pedantische Heimleiterin. Ein Unterhaltung und Sozialkritik geschickt verbindendes Erstlingswerk, ebenso ironisch und heiter im Stil wie originell im Stoff.“

„Traité de savoir-vivre à l’usage des vieilles générations“ lautet der Arbeitstitel des Werks, das Philippe Monnier Claude Jade 1972 überreicht. Monnier war Regieassistent bei „Mon oncle Benjamin“ und hatte bereits einen Film mit ihr als Vampir Clarimonde, „La mort amoureuse“, geplant, der leider nie realisiert wurde. Monnier berichtet, dass Jacques Perrin produzieren wird. Claude Jade sagt zu und wohnt im Herbst 1972 in Brüssel. Neben ihr und Perrin als einzige Stars des Films agieren Ann Petersen als Heimleiterin und Marcel Josz als Heiminsasse Jules. Das Gros seiner betagten Darsteller, allesamt Laien, findet der 27jährige Regiedebütant Lamy beim Tanztee. Deren Freude und Begeisterung bezeichnet Claude Jade später als inspirierend und ansteckend.

Jacques Perrin, Claude Jade "Home sweet Home"

Jacques Perrin, Claude Jade „Home sweet Home“

Jacques_Perrin_Claude_Jade_Home_sweet_Home„Ich bin froh, in meinem neuen Film ein gehässiges Mädchen spielen zu dürfen“, erklärt Claude Jade damals. So einfach ist das nicht, denn ab der Hälfte des Films wandelt sich Pflegerin Claire. Doch zuvor darf sie sich tatsächlich unbeliebt machen. „Ich hasse diese Pflegerin“, grummelt Heimbewohner Jules, gespielt von Marcel Josz, Jahrgang 1899. Da legt sie gern nach: Im Zuge eines Hungerstreiks für den vom Dessert ausgeschlossenen Jules durchschreitet Claire den Speisesaal wie ein Wachsoldat und droht den renitenten Heiminsassen: „Wenn Sie Ihr Mousse nicht essen, verbiete ich Ihnen, die Plätze zu verlassen!“ Hernach denunziert sie den von Jacques Perrin gespielten Sozialhelfer, der daraufhin gefeuert wird. Geübt im Anschwärzen anderer, legt sie letztendlich mit eben dieser Methode der üblen Heimleiterin das Handwerk und kann nun Jacques, für den sie ein wenig entflammt ist, zurückholen.

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Claire weiß um die Mechanismen im Altersheim und hat sich ihnen bisher untergeordnet. Claude Jade spielt die Reaktionen auf die absurden Forderungen der Heimleiterin subtil – in einer diskreten Mischung aus Skepsis und gewisser Bewunderung für dieses Durchsetzungsvermögen. Dass auch Verachtung für die herrische Direktorin mitschwingt, deutet sie dabei ebenso an wie das Unvermögen, gegen diese Regel aufzubegehren.

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Claude Jades Rolle, die den Film eröffnet und ihn auch als Erzählerin beendet, ist in ihrer Ambivalenz die einzige Figur, die sich verändert; nicht so sehr durch ihr Handeln, das sich immer aus ihrem jeweiligen Standpunkt, ihrer Entwicklung, erklärt. Vielmehr ist ihre Claire Beobachterin der Vorkommnisse in diesem so obskuren wie dokumentarisch anmutenden „St. Marguerite“.

Claude Jade in "Home sweet Home"

Claude Jade in „Home sweet Home“

2005 ist der Film in Belgien bei melimedias als DVD mit reichlich Bonusmaterial, u.a. Interviews mit Benoît Lamy, Claude Jade und Jacques Perrin, erschienen. Sprache: Französisch, UT: flämisch.

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Links:
Home sweet Home (Trautes Heim)
Jacques Perrin