Was wurde aus der kleinen Virtuosin Marianne Piketty aus Domicile conjugal ?

In „Domicile conjugal“ (Tisch und Bett) verdient Claude Jade als Christine Doinel das Geld mit Geigenunterricht. Doch die Mutter einer begabten Schülerin vergisst immer, die Stunden zu bezahlen. Der Familienrat bei Christines Eltern hatte beschlossen, dass, wenn die Mutter wieder die Stunden nicht zahlen sollte, Christine eine mit Antoine vereinbarte Melodie – die Marseillaise – spielen soll und er die Mutter im Hof abfängt. Die Schülerin Marianne spielte die siebenjährige Marianne Piketty.

Claude Jade, Marianne Piketty und Annick Asty in François Truffauts „Domicile conjugal“ (Tisch und Bett)

Lucien Darbon (Daniel Ceccaldi) hatte Marianne „die kleine Virtuosin, die besser spielt als du“ bezeichnet. Claude Jade erinnert sich 2001 bei den Audiokommentaren an Marianne Piketty: „Das kleine Mädchen wurde wirklich Geigerin. Sie war sehr talentiert.“ Als sie Marianne im Film spielen sieht, sagt sie „Die Kleine war schon sehr erstaunlich. Von einer unglaublichen Ernsthaftigkeit.“

Marianne Piketty ist längst eine international gefeierte Violinistin.  Als Antoine die Mutter abfängt, sagt er der kleinen Marianne, sie spiele bereits so gut, dass sie bald Madame Doinel Unterricht geben könne – „Du gibst ihr Stunden und sie bezahlt sich dafür“.  Und Marianne Piketty ist heute nicht nur eine international gefeierte Künstlerin und zudem Professorin am Conservatoire National Supérieur de Musique in Lyon. Sie gibt regelmäßig Meisterkurse in Frankreich und im Ausland. Die Berliner Universität der Künste beschreibt sie 2024 als eine charismatische und unverzichtbare Künstlerin, die sich durch außergewöhnlichen Unternehmungsgeist, unerschöpflichen Drang nach neuen Begegnungen und Aufführungen auszeichnet – stets mit dem Wunsch, zu teilen, im Geist des Kollektivs: „Präzision und die Bereitschaft, über sich hinauszuwachsen, sind die Grundsätze einer Geigerin, die ihr Instrument im Laufschritt spielt – im Rhythmus einer Athletin.“

Marianne Piketty 1970 in „Domicile conjugal“, aktuelles Foto der Violinistin von Bernard Martinez.

Marianne Piketty : „Ich habe das Glück, schon in jungen Jahren prägende Erfahrungen gemacht zu haben, die mich für die Bühne begeisterten. Mit sieben Jahren trat ich mit Orchester in der Salle Pleyel auf und drehte mit François Truffaut den Film „Domicile conjugal“. Nach meinem Studium am CNSM in Paris ging ich zehn Jahre lang in die USA, um meine Ausbildung an der Juilliard School und bei Itzhak Perlman fortzusetzen.“  Sie gab ihr viel beachtetes Debüt in der Carnegie Recital Hall, folgte der Einladung Yehudi Menuhins, das Brahms Violinkonzert unter seiner Leitung zu spielen und wurde Solistin seiner Stiftung. Der Rest ist Konzertgeschichte.

Claude Jade selbst nahm auf François Truffauts Wunsch kurz Geigenunterricht: Sie selbst habe nach dem Lernen der Tonleiter in erster Linie nur Klavier gespielt und nahm Geigenunterricht, um die Finger zu setzen und den Bogen halten zu können.  Claudes Vater kontaktiert eine Dame, Professorin am Konservatorium in Dijon. „Zunächst musste ich wissen, wie ich mein Instrument und meinen Bogen richtig halten sollte. Dann lernte ich, wie man eine Tonleiter aufstellt und wie man seine Finger auf die Saiten legt. Es war schrecklich, dass ich der armen Geige nur ein herzzerreißendes Miauen entlockte. Meine Lehrerin hielt mich für „begabt“. Sie war nicht wählerisch. “
Neun Jahre später, in „L’amour en fuite“, muss Antoine den Sohn Alphonse zum Bahnhof bringen, weil Christine als Geigenlehrerin Prüfungen am Konservatorium, am Conservatoire national supérieur de musique et de Danse de Paris (CNSMDP) hat, wo die echte Marianne Piketty studiert hatte. Bei der Entstehung des letzten Doinel-Films dürfte sie erst 15 gewesen sein, so alt wie Claude, als sie am Conservatoire de Dijon begann.

Mariannes Mutter wird von Anik Asty gespielt, die in „Geraubte Küsse“ die Bordellkassiererin war und in „Auf Liebe und Tod“ die Kinokassiererin sein wird.

Anik Asty-Belaubre bei François Truffaut: als Bordellkassiererin in „Baisers volés“, als Mariannes Mutter in „Domicile conjugal“ und als Kinokassiererin mit Fanny Ardant in „Vivement Dimanche !“

Anik Asty, die sich ab Mitte der 1970er Jahre Anik Belaubre nennt, hat im François-Truffaut-Universum in ihren drei Rollen mit Geld zu tun, zweimal als professionelle Kassiererin: In „Baisers volés“ kassiert sie Zimmergeld und Spenden für eine erkrankte Kollegin. In „Vivement Dimanche !“ kassiert sie im Kino, das einem Puffbesitzer gehört. An ihrem Ende taumelt sie wie Daniel Gélin in Hitchcocks „Der Mann der zuviel wusste“ mit Messer im Rücken zurück an ihr Kassenhäuschen, ermordet von Philippe Laudenbach als Maître Clément. Dazwischen spielte sie in einem weiteren Film mit Claude Jade, „Fou comme François“. Sie wird im Abspann bereits Anik Belaubre genannt. Der Film entsteht 1976 in Marseille, wo sie ein Jahr zuvor auch am Theater gespielt hat: noch als Anik Asty in „Elle est pas belle la vie ?“ von Richard Martin.

Anik Asty Belaubre in den Truffaut-Filmen „Geraubte Küsse“, „Tisch und Bett“ und „Auf Liebe und Tod“

Marianne Piketty hatte 1970 einen ausgezeichneten Start parallel zur Salle Pleyel, die Truffaut in „L’amour à vingt ans“ filmte. Sie spielte ihr „kleines Konzert“, wie Christine es im Film nennt, bei einem Mann, der ein Vorbild in der Verbindung von Kunst und Unterhaltung ist, mit seiner Mischung aus Emotion und Reflexion sowohl Cineasten als auch das breite Publikum zu erreichen, ohne dabei den ästhetischen Anspruch zu opfern. Eben dies will Marianne Piketty, wenn sie Klassische Musik allen zugänglich machen will wie bei ihrem 2013 versammelten Ensemble Le Concert Idéal.
Bis zum 2. Februar 2025 können wir die Anfänge der Violinistin und Professorin Marianne Piketty auf Arte sehen. Der deutsch-französische Kultursender ARTE schrieb 2006 über ihre erste Zusammenarbeit mit dem Akkordeonisten Pascal Content für eine CD: “Zusammen sind sie bahnbrechend, transkribieren und geben neue Werke in Auftrag, bauen ein Repertoire auf. Marianne Piketty und Pascal Contet schicken uns auf eine Reise und erlauben uns vor allem zu träumen. Dies ist so rar heutzutage, sodass wir ihnen nicht genug dafür danken können.“
Mehr zu Marianne Piketty auf ihrer Homepage.

Hier noch bis zum 1. Februar 2025: „Domicile conjugal“ (Tisch und Bett) in der Arte Mediathek

Marianne Piketty mit Claude Jade in François Truffauts „Domicile conjugal“, heute eine gefeierte Violonistin. (aktuelle Fotos Bernard Martinez)

 

Oktober 2024

„Jedes Jahr, wenn der Oktober wiederkehrt, entsteht in mir in der Herzgegend eine kleine Erwärmung: Ah, Oktober, das wird Claudes Geburtstag sein.“ (François Truffaut, 1982)
„Chaque année, lorsque revient le mois d’octobre, un petit réchauffement se produit en moi dans la région du cœur: Ah, octobre, cela va être le birthday de Claude.“ (François Truffaut, 1982)

Heute vor 76 Jahren wurde Claude Jade geboren.

Am 21. Oktober 2024 jährt sich zum 40. Mal François Truffauts Todestag. Arte ehrt ihn und gibt die Möglichkeit zu einem Wiedersehen mit des Chronik des Paares Antoine Doinel und Christine Darbon. Seinen schönsten Film „Baisers volés“ (Geraubte Küsse) zeigt Arte am 21. Oktober, gefolgt von einem Porträt des Schauspielers Jean-Pierre Léaud. Bereits ab dem 1. Oktober sind die beiden weiteren Filme „Domicile conjugal“ (Tisch und Bett) und „L’amour en fuite“ (Liebe auf der Flucht) in der arte Mediathek zu entdecken oder wiederzuentdecken.

Zwar werden die Filme immer wieder in französischen und deutschen Kinos gezeigt, ob nun zu einer Hommage an Claude Jade im Berliner Kino Lichtblick, bei einer Jean-Pierre-Léaud-Retrospektive in Düsseldorf oder in etlichen Reihen zu Ehren von François Truffaut im Berliner Babylon. Zu Truffauts 30. Todestag zeigten in Paris die Cinémathèque und in Berlin das Lichtblick Truffaut-Werkschauen  . Doch im Fernsehen waren sie zuletzt vor zwölf Jahren zu sehen.

Arte zeigt im Oktober und November 2024 die François-Truffaut-Filme „Baisers volés“, „Domicile conjugal“ und „L’amour en fuite“ mit Jean-Pierre Léaud und Claude Jade.

Seit dem 1. Oktober 2024 bis zum 1. Februar 2025 in der Arte Mediathek:
Tisch und Bett (deutsche Synchronfassung)
https://www.arte.tv/de/videos/011981-000-A/tisch-und-bett/
Domicile conjugal
https://www.arte.tv/fr/videos/011981-000-A/domicile-conjugal/
Liebe auf der Flucht (deutsche Synchronfassung)
https://www.arte.tv/de/videos/045938-000-A/liebe-auf-der-flucht/
L’amour en fuite
https://www.arte.tv/fr/videos/045938-000-A/l-amour-en-fuite/

Vom 21. Oktober bis 4. November dann auch „Baisers volés“ (Geraubte Küsse)

Geraubte Küsse (deutsche Fassung)
https://www.arte.tv/de/videos/011587-000-A/geraubte-kuesse/
Baisers volés
https://www.arte.tv/fr/videos/011587-000-A/baisers-voles/

 

François Truffaut, Jean-Pierre Léaud und Claude Jade. Baisers volés

Mehr Informationen hier:

Baisers volés (Geraubte Küsse)

Domicile conjugal (Tisch und Bett)

L’amour en fuite (Liebe auf der Flucht)

Tisch und Bett/Kramer gegen Kramer/Liebe auf der Flucht

Robert Bentons „Kramer gegen Kramer“ sollte nach Bentons Wunsch ein Film von François Truffaut werden. Das Berliner Kino Babylon zeigt heute um 22 Uhr Truffauts „Liebe auf der Flucht“ (L’amour en fuite) , den er stattdessen drehte. Ebenfalls heute zeigt Arte um 20:15 Bentons Film. Für Berliner ein Double Feature.

„Kramer gegen Kramer“ ist ein Beitrag des New Hollywood, das von der „Nouvelle Vague“ und bei Frauenfiguren von François Truffaut geprägt war, die selbstbewusster waren als die des alten Studiokinos. 1978 herrschte noch Aufbruch wie wir ihn bei Cassavetes und Rowlands bewunderten. Für Truffaut hatte Benton bereits „Bonnie und Clyde“ geschrieben. Truffaut sagte erneut ab.

Robert Benton im Gespräch mit Michael Althen: „Bei Kramer gegen Kramer habe ich ursprünglich gesagt, der bessere Regisseur dafür wäre Truffaut, aber ich würde gerne das Drehbuch schreiben. Truffaut war auch interessiert, hatte aber keine Zeit.“ Truffaut lehnte 1978 aus Zeitgründen ab, denn er bereitete bereits „Liebe auf die Flucht“ vor, die Fortsetzung zu „Tisch und Bett“ (Domicile conjugal), dessen Einfluss bei „Kramer gegen Kramer“ unverkennbar ist.

Es war die Epoche, in der es auch im US-Kino jene Natürlichkeit gab, die besonders gelingt, wenn Dustin Hoffman und sein Filmsohn „Arme Ritter“ (French Toast als Reminiszenz an „Baisers volés“, den Vorgänger zu „Tisch und Bett“ und „Liebe auf der Flucht“) zerbrechen und sie in eine Tasse Milch tunken. Ein improvisierter Akt, gegen den das Filmkind protestiert und dem Zusammenspiel eine Vertrautheit gibt, als wär es ein Film von Truffaut.

Truffauts Co-Autor Claude de Givray sagte 2001 in den DVD-Kommentaren zu Domicile conjugal: „Seit dreißig Jahren hat das Kino versucht, dass Frauen sich emanzipieren. Und dann kommt 1970 Claude Jade. Sie lacht, nein, sie lächelt, wenn sie ihre Vorwürfe vorbringt und dabei ein Taxi ruft. Sie erklärt den Männern: Ihr seid egoistisch, ihr seid scheinheilig, ihr lügt. François war einer der ersten, die diese Art Frau als Hauptrolle geschaffen haben und die Figur von Claude Jade ist wunderbar. Denn in ihrer Rolle zeigt sie im Kino vielleicht das erste Mal ganz natürlich, dass Frauen Forderungen erheben. Danach haben die Amerikaner es in den 70er Jahren auch gezeigt, Mazursky und Benton, der damals Truffaut sein Drehbuch schickte. Robert Benton und sein ‚Kramer vs Kramer‘ und Woody Allen haben in ,Domicile conjugal’ ihr Vorbild.“

Gene Siskel von der Chicago Times schrieb „Kramer vs. Kramer verliert nie seinen zurückhaltenden, realistischen Touch. Sie werden sich am Ende des Films fragen, warum wir nicht mehr Bilder wie diese sehen. Schließlich ist ihre Geschichte nicht so ungewöhnlich.“

Ohne Truffauts Regie wurde es kein Frauenfilm, so dass die in ihren Auftritten reduzierte Meryl Streep den „Best Supporting Actress“-Oscar erhielt. Da hatte Benton nun schon Truffauts Kameramann Almendros, der gezeigt hatte, welche Wirkung es hat, wenn Menschen gefilmt werden, die eine Treppe hinaufsteigen und vor der Verhandlung erhält Streep diesen gleichberechtigten Gang im Gerichtspalast nicht. Die Kamera fährt bei ihrer Ankunft nach oben und wir müssen Dustin Hoffman, dem ohnehin der ganze Film und die Sympathien gehören, folgen. Tatsächlich musste sich Meryl Streep durchsetzen, dem „Oger“, wie sie die Joanna nannte, etwas mehr Menschlichkeit verleihen zu dürfen. Und egal, wie schäbig sich Hoffmann am Set immer wieder gegen Meryl Streep laut deren Erinnerungen aufführte, zählten Kritiker auch seine Leistung zu seinen besten. An „Tisch und Bett“ erinnern auch die getrennten Gespräche übereinander, die bereits Woody Allen als Referenz an „Bed and Board“ in „Annie Hall“ angegeben hatte. Vivaldis Mandolinenkonzert ist von Benton dessen Verwendung für Truffauts „L’enfant sauvage“ entlehnt und weil Benton sicher war, François würde Regie führen, hatte er Néstor Almendros („L’enfant sauvage“, „Domicile conjugal“, „L’amour en fuite“…) als Kameramann engagiert. Almendros arbeitete auch später mit Benton und filmte Streep erneut in „Sophie’s Choice“.

Almendros und Streep sind empfehlenswert und als erneute Sicht auf das „New Hollywood“. „Kramer gegen Kramer“ ist leider als Zugeständnis an sein breites amerikanisches Publikum nicht frei von falscher Sentimentalität, aber ein ehrlicherer Gegenentwurf zu Schmonzetten ähnlicher Vater-Sohn-Thematik wie etwa „Der Champ“ von 1979.
Und auch die Gerichtsszenen sind antiquiert, denn 1978 gab es bereits die Möglichkeit des gemeinsamen Sorgerechts. Weshalb Truffaut für die Scheidung der Kramers keine Zeit hatte: seine Helden Claude Jade und Jean-Pierre Léaud aus „Geraubte Küsse“ und „Tisch und Bett“ lassen sich in „Liebe auf der Flucht“ zeitgleich zu Streep und Hoffman scheiden: als erstes Paar in der giscardschen Scheidung des beiderseitigen Einverständnisses. Und eben jene „Liebe auf der Flucht“ lief heute im Babylon.

Scheidung in beiderseitigem Einvernehmen: Statt „Kramer gegen Kramer“ drehte Truffaut „Liebe auf der Flucht“. Claude Jade, Jean-Pierre Léaud und Jean-Pierre Ducos

Babylon heute:
https://babylonberlin.eu/programm/festivals/truffaut/6912-truffaut-love-on-the-run?

Claude Véga 1930 – 2022

Am 11. April verschwand der berühmteste Imitator berühmter Franzosen. Mit einer gewissen Zärtlichkeit wurde er zu ihnen und Véga musste nur an sie denken: Yves Montand, Louis de Funès, Charles Aznavour…

Claude Véga mit Claude Jade in „Domicile conjugal“

Seine Spezialität waren Frauen: Annie Girardot, Maria Callas, Zizi Jeanmaire, Nana Moskouri, Barbara, Alice Sapritch und Delphine Seyrig. Seyrig imitiert er in François Truffauts „Domicile conjugal“ (Tisch und Bett) im Fernseher, vor dem Antoine (Jean-Pierre Léaud) und Christine (Claude Jade) sitzen und die Babynahrung von Alphonse essen. Erst jetzt weiß das junge Ehepaar, dass ihr sonderbarer Nachbar, den alle Hausbewohner den „Würger“ nannten, ein Imitator beim Fernsehen ist. Claude Véga war ein Jugendfreund von François Trufffaut und hatte in diesem Film seinen berühmtesten Kinoauftritt. Neben den Imitiationen spielte Claude Véga auch Theater. Nun ist er im ewigen Gedächtnis bei seinen Imitationsvorbildern.

Claude Jade, Jean-Pierre Léaud und Claude Véga in „Domicile conjugal“ (Tisch und Bett)

Jean-Pierre Léaud 75

Jean-Pierre Léaud feiert heute seinen 75. Geburtstag. Gefeiert wurde Léaud im letzten Jahr mehrfach: Das Filmmuseum Düsseldorf widmete ihm eine umfangreiche Retrospektive und zum 50. Jahrestag von „Baisers volés“ erschien in der Reihe „Les meilleurs films de notre vie“ in Frankreich und Italien ein Buch über François Truffauts poetisches Meisterwerk.

Seit diesem Film und mit seinen beiden Fortsetzungen „Domicile conjugal“ und „L’amour en fuite“ sind Jean-Pierre Léaud und Claude Jade eines der wichtigsten Paare der Filmgeschichte. Vor kurzem erschien bei „Les Echos“ ein Artikel über das Einfärben von Fotos durch Künstliche Intelligenz. Neben Motiven vom Eiffelturm, der Landung der Allierten 1944 und der Mädchenschule in Singapur von 1890 gibt es vier Ikonen: Neben Marilyn Monroe und dem Rennfahrer Eddie Merckx das Filmpaar Jean-Pierre Léaud und Claude Jade.

Jean-Pierre Léaud ist auch bei Claude Jade François Truffauts filmischer Stellvertreter.

Jean-Pierre Léaud ist das Gesicht der Nouvelle Vague und das Gesicht des Französischen Films der 60er und 70er Jahre. Und auch wenn er oft mit Truffauts Widerpart Godard gedreht hatte, bleibt er im Gedächtnis des Kinos Antoine Doinel.
„Im zwanzigsten Jahrhundert hat es im Grunde nur einen geglückten Versuch gegeben, Marcel Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“ ins bildliche Medium zu übertragen, eben Truffauts Doinel-Zyklus.“, schrieb „Die Zeit“.
Er war Truffauts Double, auch bei Claude Jade. Denn mit „Baisers volés“ begann auch die Chronik eines Paares: Antoine und Christine. Die für Juni 1968 geplante Hochzeit zwischen François und Claude wurde abgesagt, doch auf der Leinwand wurde aus Antoine und Christine ein Ehepaar.

Christine (Claude Jade) und Antoine (Jean-Pierre Léaud) aus „Geraubte Küsse“ heiraten in „Tisch und Bett“

Das Trio der „Baisers volés“: François Truffaut, Claude Jade, Jean-Pierre Léaud

Ein Ehepaar, das eigentlich noch zu jung ist, so als seien Kinder durch eine Tür getreten und zu früh erwachsen. So spielen sie Erwachsene.
Claude Jade beschreibt in „Baisers envolés“ die Zeit der Arbeit zu „Domicile conjugal“: „Wir arbeiten viel und lachen auch viel. François ist für Jean-Pierre und mich sehr präsent, es wird eine engere Komplizenschaft und Jean-Pierre akzeptiert das Duzen. Er ist jovial, fröhlich und entspannt. Er wohnt die ganze Zeit bei François, der ihn ans Set mitnimmt und sich wie ein Vater um ihn kümmert. Es ist auch sehr lustig zu hören, wie die Leute aus der Nachbarschaft zu François sagen: „Oh schau, wir haben neulich deinen Sohn gesehen!“
Es stimmt, dass Jean-Pierre ihm in dieser Zeit ähnelt; er trägt die gleichen Anzüge, die gleichen Hemden, die gleiche Jacke, den gleichen Mantel. Die Ähnlichkeit ging so weit, dass auch seine Handschrift der von François nahe kam. Wenn Journalisten schrieben, dass Doinel Truffauts Doppelgänger ist, meinen sie auch Jean-Pierre, bei dem Rolle und Darsteller verschmolzen. Ihre enge Freundschaft ist ein verstörendes Spiegelspiel, das Pirandello interessiert hätte.“
Und wenn Truffaut Claude Jade und Jean-Pierre Léaud als seine „Contemporains“ bezeichnete, nannte er seine einstige Verlobte auch bis zuletzt „ma troisième fille“.

Längst sind Antoine und Christine Ikonen, ihre beiden Schauspieler Jean-Pierre Léaud und Claude Jade sind Kulturgut, dessen sich Filmemacher und Autoren bedienen. Bei Christophe Honoré werden sie in seinem Film „Les chansons d’amour“ zitiert.

Auch im Roman „Niemand“ finden sie Einzug, wenn Gwenaelle Aubry in den beiden Kindern, „dem fahrigen dunkelhaarigen jungen Mann mit seinen engen Pullis und seinen anliegenden Jacken“ und in der „sehr jungen Frau mit dem Rehgesicht“ ein Paar sieht, das aus dem Erwachsenenspielen nicht herausgefunden hat, „“ihre darunter noch so spürbare Kindheit, den Eindruck, lebhaft wie eine Reminiszenz zweier Kinder, die Mama und Papa spielen wie Claude Jade mit ihrer Pelzmütze und ihrem Einkaufsnetz als Hausfrau verkleidet, die stolz wie ein kleines Mädchen darauf besteht, mit „madame“ angesprochen zu werden ….“

Und auch in David Foenkinos Roman „Unsere schönste Trennung“ erscheinen die beiden: „Wir beschlossen, in einem Gebäude mit großem Innenhof eine Wohnung zu beziehen. Ich weiß nicht, warum ich mein Leben immer mit dem von Antoine Doinel vergleiche, auf alle Fälle kam es mir vor, als sei ich am Ende der geraubten Küsse angekommen. Als würde mein Leben in den ehelichen Hafen einfahren. Alice hatte zudem soviel von Claude Jade, vor allem wenn sie schlief. Mir gefiel, wenn sie Röcke im Retro-Look trug und wir im orangefarbenen Stil der 70er Jahre lebten. Das Leben bleibt doch immer das gleiche.“

Mit „Liebe auf der Flucht“ blieb die Chronik beendet, Claude Jade und Jean-Pierre Léaud teilten sich beim Festival von Cannes ein Jahr nach Truffauts Tod noch einmal die Bühne – zu einem Foto der Filmfamilie von François.

Jean-Pierre Léaud (erste Reihe, 2. v.r.) und Claude Jade (r.) 1985 in Cannes

Von Daniel Cohn-Bendit, der 1968 mit Truffaut, Claude Jade und Jean-Pierre Léaud vor der Cinémathèque demonstrierte, wurde 1986 der Versuch einer Fortsetzung unternommen. Er kontaktierte Claude Jade und auch Léaud, doch das Projekt kam nie zustande. Ein Drehbuchentwurf Truffauts schilderte das „Tagebuch von Alphonse“, in dem es nur noch Christine und ihren gemeinsamen Sohn mit Antoine, Alphonse Doinel, gab. Daraus wurde 2004 ein Hörspiel mit Claude Jade und Stanislas Merhar – ohne Jean-Pierre Léaud.
Den letzten gemeinsamen öffentlichen Auftritt hatten beide 2005 beim Festival von Angers. Claude Jade starb 2006, Jean-Pierre Léaud dreht noch immer Filme, in seinem jüngsten Film von 2019, „C’è tempo“, spielt er als Gast sich selbst. Eine Reminiszenz an Antoine Doinel, der er bleiben wird, ein ewig junger Träumer.

jean-pierre leaud, claude jade

Jean-Pierre Léaud-Retrospektive im Filmmuseum Düsseldorf

Mit 14 Filmen präsentiert das Filmmuseum Düsseldorf vom 4. bis zum 30. März die Reihe „Jean-Pierre Léaud – Der sanfte Rebell“.

Jean-Pierre Léaud - geboren 1944 in Paris als Sohn einer Schauspielerin und eines Drehbuchautors - konnte sich bereits als Kind beim Casting für Francois Truffauts ersten Spielfilm "Sie küssten und sie schlugen ihn" (1959) für die Titelrolle des Antoine Doinel durchsetzen. So begann eine der fruchtbarsten und wichtigsten Kooperationen in der Filmgeschichte. Zusammen mit der Schauspielerin Claude Jade, eine weitere Entdeckung Truffauts, waren sie als das Paar Antoine und Christine Zentrum einer ganzen Reihe von insgesamt zwanzig Jahren umspannenden Filmen. Ihre Figuren sind naiv und neunmalklug, doch während Christine mit der Zeit reifer wird, bleibt Antoine auch als Erwachsener ein Kind. Ein ewiger Jüngling, zart, bisweilen scheu und immer den Schalk im Nacken. Der Zyklus zeigt ihn als Kind, als Jugendlichen, schließlich als Ehemann und Familienvater. In Filmen wie "Geraubte Küsse" (1968), "Tisch und Bett" (1970) oder "Liebe auf der Flucht"(1979) hangelt er sich von Job zu Job oder verstrickt sich in chaotische Liebesgeschichten. Auf das von ihm fabrizierte Chaos reagiert er nur mit einem lakonischen Lächeln und einem lässigen Schulterzucken. Les 400 coups, Baisers voles, Domicile conjugal, L'Amour en fuite

Jeden Sonntag wird ein Film aus François Truffauts Antoine-Doinel-Zyklus gezeigt. Und somit laufen an drei Sonntagen, jeweils um 15 Uhr auch die Filme der Antoine-und-Christine-Saga. Am 11. März macht „Baisers volés“ (Geraubte Küsse) den Anfang, am 18. März läuft „Domicile conjugal“ (Tisch und Bett / Das Ehedomizil) und am 25. März „L’amour en fuite“ (Liebe auf der Flucht).

Der Focus schreibt:
„Mit insgesamt 14 Filmen widmet sich das Filmmuseum Düsseldorf, Schulstraße 4, dem vielseitigen und sechs Jahrzehnte umspannenden Werk von Jean-Pierre Léaud. Der Schauspieler und die Ikone des französischen Autorenkinos wurde zusammen mit François Truffaut und als dessen Alter Ego Antoine Doinel zum Aushängeschild der Nouvelle Vague. Léaud repräsentierte das Lebensgefühl der französischen Jugend in den 1950er- und 1960er-Jahren. Am Sonntag, 4. März, startet die Filmreihe im Filmmuseum um 15 Uhr. Bis zum 30. März können sich Interessierte die Filme zum Großteil im Original mit Untertitel anschauen.

Mit dem Antoine-Doinel-Zyklus zeigt das Filmmuseum die vier Langfilme und einen Kurzfilm Truffauts mit Léaud als chaotisch-charmanten und träumerischen Lebenskünstler. Weitere Filme von Aki Kaurismäki, Jerzy Skolimowski, Bernardo Bertolucci, Bertrand Bonello und Jean-Luc Godard sowie sein aktueller Film, „Der Tod von Ludwig IXV“ von Albert Serra, runden die Reihe ab.
Jean-Pierre Léaud – geboren 1944 in Paris als Sohn einer Schauspielerin und eines Drehbuchautors – konnte sich bereits als Kind beim Casting für Francois Truffauts ersten Spielfilm „Sie küssten und sie schlugen ihn“ (1959) für die Titelrolle des Antoine Doinel durchsetzen.

So begann eine der fruchtbarsten und wichtigsten Kooperationen in der Filmgeschichte. Zusammen mit der Schauspielerin Claude Jade, eine weitere Entdeckung Truffauts, waren sie als das Paar Antoine und Christine Zentrum einer ganzen Reihe von insgesamt zwanzig Jahren umspannenden Filmen. [ Anm.: natürlich sind es für Antoine und Christine etwa zehn Jahre ]

Ihre Figuren sind naiv und neunmalklug, doch während Christine mit der Zeit reifer wird, bleibt Antoine auch als Erwachsener ein Kind. Ein ewiger Jüngling, zart, bisweilen scheu und immer den Schalk im Nacken.

Der Zyklus zeigt ihn als Kind, als Jugendlichen, schließlich als Ehemann und Familienvater. In Filmen wie „Geraubte Küsse“ (1968), „Tisch und Bett“ (1970) oder „Liebe auf der Flucht“ (1979) hangelt er sich von Job zu Job oder verstrickt sich in chaotische Liebesgeschichten.  Auf das von ihm fabrizierte Chaos reagiert er nur mit einem lakonischen Lächeln und einem lässigen Schulterzucken.

Ab Mitte der 1960er-Jahre beginnt Léaud, sich von Antoine Doinel zu emanzipieren. Seine Figuren – so zum Beispiel in „Masculin, féminin“ (1966) oder „I hired a contract killer“ (1992) – werden abstrakter, sein schüchternes Wesen bleibt ihm jedoch erhalten. Erst Jahre später wendet er sich gänzlich anderen Rollen zu und dreht letztlich mit fast allen Größen des europäischen Kinos.

2016 erhält Jean-Pierre Léaud die Goldene Palme für sein Lebenswerk

Im Jahr 2000 erhielt er einen Ehren-César und 2016 wurde ihm die Goldene Palme der Internationalen Filmfestspiele von Cannes als Ehrenpreis für sein Lebenswerk verliehen.“

Link zur gesamten Léaud-Werkschau im „Black Box“-Kino
Link zum ersten gemeinsamen Film Geraubte Küsse (Baisers volés)

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Balthus, Beine, Brille und Brüste

Zur Zeit ist ein Balthus-Gemälde Gegenstand einer Zesur-Debatte: „Met Museum refuses to remove Balthus painting“. Man kann die Unterhose seiner pubertierenden „Thérèse rêvant“ sehen und das Bild, das wohl Besucher sexuell erregen könnte, soll entfernt werden, so fordern es Online-Petitionen.

Auch Truffaut, einem Mann der sich im Kino wie kaum ein Zweiter für das Recht der Kinder einsetzte („Les 400 Coups“, „L’enfant sauvage“, „L’argent de poche“), hatte einen Balthus in seiner Wohnung hängen und verwendete ihn. Nein, es war ein harmloser Balthus. „Thérèse rêvant“ missachtet in der Darstellung die Würde einer Pubertierenden und wirkt ähnlich grässlich wie die sexuell umgarnenden Posen von Natalie Portman vor Jean Reno in Luc Bessons „Léon“, zu dem Besson sich von seiner 15jährigen Geliebten Maïwenn inspiriert gefühlt haben will.

Die Debatte um solche Bilder sind nötig, haben ihre Berechtigung, hier nur eine Betrachtung zur Zensur bei Frauenbildern in Bezug auf Balthus bei Truffaut und Claude Jade bei Truffaut.

Balthus Metropolitan Museum Mee too Bed and Board Domicile conjugal Francois Truffaut Claude Jade Jean-Pierre Leaud

Christine a décroché un petit tableau du mur et le tend à Antoine:
Christine: „Tiens prends le petit Balthus.“
Antoine: „Ah, le petit Balthus, je te l’ai offert, il est à toi. Garde-le.“
Christine: „Si si emporte-le.“
Antoine: „Ecoute il est à toi, je te l’ai offert.“
Christine: „Ah bon.“
Christine raccroche le tableau.

***
Christine hangs a small painting off the wall and hands it to Antoine.
Christine: „Here, take this Balthus.“
Antoine: „I gave it to you. It’s yours.“
Christine: „You can have it back.“
Antoine: „Look, it’s yours! I gave it to you.“
Christine: „Oh, all right then.“
Christine hangs it back.
***
Christine hängt ein kleines Gemälde von der Wand und reicht es Antoine.
Christine: „Da, nimm deinen kleinen Balthus mit.“
Antoine: „Aber den Balthus hab ich dir geschenkt. Er gehört dir. Behalt ihn.“
Christine: „Ja, schon. Aber nimm ihn doch mit.“
Antoine: „Aber ich hab ihn dir geschenkt, also gehört er dir.“
Christine: „Na gut.“
Christine hängt ihn zurück.

„La peau douce“ (1963), „Domicile conjugal“ (1970)

Danach glaubt Antoine, Christine küssen zu dürfen, doch: „Nein, du küsst mich jetzt nicht“.
Den Gemälde-Dialog, damals ein Foujita, hatte François Truffaut bereits in einer Szene zwischen dem Ehepaar Lachenay in „Die süße Haut“ verwendet. Sicher, es ist ein harmloser Balthus, doch wenn sich nach einem Erfolg des Verbots im New Yorker Met eine Petition dessen Gesamtwerk vornehmen sollte?
Es wäre absurd, dass sich im Kino demnächst jemand daran stören könnte, dass Perseus eine Frau köpft und Medusas Haupt triumphierend in die Höhe hält; auch die Filmographien von Schmollmund Brigitte Bardot oder dem einstigen Nacktmodell Marilyn Monroe hätten eine Post-Zensur zu befürchten, was für ein Frauenbild ! Nicht so reaktionär wie in prüden Heimatfilmen, doch erregend sexistisch.
Vergessen wir dabei nicht, was Truffaut bei „Geraubte Küsse“ zum Namen von Claude Jades Rolle anmerkte: Christine, keine Martine! Wobei er sich auf das sexistische, frauenfeindliche Bild, dass die „Caroline Chérie“-Schmonzetten mit Martine Carol bezog. „Die Leute, die ihre Tochter Martine oder Caroline nennen, sind Idioten, die zwischen 1950 und 1955 die Martine-Carol-Vergiftung erlitten haben. Wie Brigitte danach und jetzt Sylvie usw. Also keine Martine“.
Und in jener Szene, die trotz Schnitten wie ein One-Take anmutet, bestimmt Christine, wann nicht geküsst wird (zweimal Nein) und wann doch (zur Begrüßung und aus dem Taxi).

                         Sexuell verdächtige Fetische: Beine, Brille, Brüste

Bei Claude Jade sollten Sie noch einmal einen Blick auf „Domicile conjugal“ werfen, den fetischisierten Blick auf Claude Jades Beine. Wir sehen zu Beginn ein Paar Frauenbeine, für Truffaut „die Zirkel, die den Erdball in allen Himmelsrichtungen ausmessen und ihm sein Gleichgewicht und seine Harmonie geben“.
Für andere Betrachter könnten sie sexuell erregend sein und die Schauspielerin als Sexualobjekt degradieren. Ihre Beine schreiten  an Pariser Ladenfassaden vorbei und werden begleitet von der Melodie einer Violine, die neben dem Einkaufsnetz im Geigenkasten mitschwebt. Und von einer stolzen Stimme, die verlangt, sie nicht als Mademoiselle, sondern als Madame anzureden. Für immer wird sie begleitet von verzauberten Blicken, deren Besitzer das Auge eines Filmemachers ist, des Filmemachers François Truffaut. Doch dann dienen sie dem von Yvon Lec gespielten Hilfspolizisten zur Erregung, diese Beine. Antoine greift nach ihnen, so oft Truffaut sich und seinem Alter ego eine Möglichkeit bietet.

Als in Berlin Caravaggios Amor entfernt werden sollte, weil es „zweifellos der Erregung des Betrachters“ diene, könnten dies auch die Beine Claude Jades, also der Erregung dienen.

Man könnte dagegen argumentieren, dass „Domicile conjugal“ doch ein Werk der Emanzipation sei, so wie es Co-Autor Claude de Givray 2001 erklärte. In der Szenenfolge, in der auch der kleine Balthus auftaucht, gelingt Truffaut ein Kunststück, das amerikanische Kino entscheidend zu beeinflussen.
Nach der Entdeckung des Seitensprungs stellt Christine Bedingungen.
Claude de Givray: „Seit dreißig Jahren hat das Kino versucht, dass Frauen sich emanzipieren. Und dann kommt 1970 Claude Jade. Sie lacht, nein, sie lächelt, wenn sie ihre Vorwürfe vorbringt und dabei ein Taxi ruft.
Sie erklärt den Männern: Ihr seid egoistisch, ihr seid scheinheilig, ihr lügt.  François war einer der ersten, die diese Art Frau als Hauptrolle geschaffen haben und die Figur von Claude Jade ist wunderbar. Denn in ihrer Rolle zeigt sie im Kino vielleicht das erste Mal ganz natürlich, dass Frauen Forderungen erheben.
Danach haben die Amerikaner es in den 70er Jahren auch gezeigt, Mazursky und Benton, der damals Truffaut sein Drehbuch schickte. Robert Benton und sein ‚Kramer vs Kramer‘ und Woody Allen haben  in ,Domicile conjugal’ ihr Vorbild.“ Wie auch die Arbeiten von Cassavetes und Gena Rowlands.
Doch wie wird heute in der Idiokratie des Internets der Einsatz erniedrigender Fetische in „Domicile conjugal“ bewertet? Etwa wenn Antoine Christine im Bett bittet, ihre Brille wieder aufzusetzen. Oder gar Christines Geste, sich für Antoine, der neuerdings auf Japanerinnen steht, als Geisha zu verkleiden und ihr dann eine Träne über die Maquillage rollt? Entwürdigend.

Noch ist niemand darauf gestoßen, dass Antoine Christines Brüsten entwürdigende Namen gibt: Laurel und Hardy. Und schlimmer noch: „Die hier nennen wir Don Quijote und die kleine dicke da Sancho Panza.“

#mitou,
signé Christine Doinel.

Daniel Ceccaldi 89

Claude Jade, Daniel Ceccaldi und Claire Duhamel in "Geraubte Küsse"

Claude Jade, Daniel Ceccaldi und Claire Duhamel in „Geraubte Küsse“

ceccaldi_claude jade daniel ceccaldi Domicile conjugalIn „Baisers volés“ und „Domicile conjugal“ war Daniel Ceccaldi (1927-2003) der Stiefvater von Christine Darbon-Doinel alias Claude Jade – und natürlich der Schwiegervater von Truffauts Alter ego Antoine Doinel.
Den Namen Darbon für Christines Eltern entlieh Truffaut dem Schauspieler François Darbon, der im Kurzfilm „Antoine et Colette“ den namenlosen Stiefvater von Antoines platonischem Schwarm Colette gespielt hatte. Die Darbons leben im 16. Arrondissement, in der avenue Édouard-Vaillant Nummer 44.
Ceccaldi_baisers_voles_Claude_Jade_Daniel_Ceccaldi_1968_filmClaude Jade über ihre Filmeltern: „François sagte, dass er Mädchen mit netten Eltern gern mochte. Aus diesem Grund sind Antoine Doinels Schwiegereltern so sympathisch.“
Daniel Ceccaldis Lucien Darbon könnte dem Universum Charles Dickens‘ entstammen, ein  gebildeter, schelmischer und  warmherziger Bonhomme, als Stiefvater und als Schwiegervater auch ein Komplize der Helden.

Claude Jade, Claire Duhamel, Jean-Pierre Léaud und Daniel Ceccaldi. Baisers volés. 1968.

Claude Jade, Claire Duhamel, Jean-Pierre Léaud und Daniel Ceccaldi. Baisers volés. 1968.

Jean-Pierre Leaud, Claude Jade, Daniel Ceccaldi, Claire Duhamel. Domicile conjugal. 1970

Jean-Pierre Leaud, Claude Jade, Daniel Ceccaldi, Claire Duhamel. Domicile conjugal. 1970

Ceccaldi_Dom_le canard malicieux daniel ceccaldi claude jadeEr ist warmherzig und in seiner Spielfreude köstlich, wenn er am Essenstisch erklärt, weshalb Christine auf keinen Fall die Marseillaise spielen dürfe. Er ist ein Feingeist, der eine Autowerkstatt besitzt und der in „Domicile conjugal“ seinem Enkel Alphonse eine gelbe Gummiente mitbringt. Kurz zuvor hat Christine herausgefunden, dass Antoine sie mit einer Japanerin betrogen hat. Lucien: „Diese Ente ist übrigens für Alphonse, die ist nicht für euch. Ich sage das, weil ich kürzlich einen interessanten Roman gelesen habe: ‚Die schelmische Ente‘. Es ist die Geschichte eines Richters, eines Mannes aus dem gehobenen Bürgertum, der sich unsterblich in eine Ente verliebt, eine Ente, die man seinem Sohn geschenkt hat.“ Christine: „Das kann Antoine nicht passieren; er hat für leblose Dinge nichts übrig. Er bevorzugt Menschen, obgleich er überhaupt nichts gegen die Farbe Gelb hat.“

Ceccaldi_Banania_Baisers_voles_Claude_JadeSeinen schönsten Satz in „Domicile conjugal“ hat Ceccaldi in einer Szene im Bordell, in dem er seinem Schwiegersohn begegnet: „Wertvolle Menschen sind wie schöne Dinge. Sie verlassen selbst die guten Häuser mit Bedauern.“
Der Kritiker Bob Wade schreibt über Ceccaldis Lucien Darbon: „Claude Jade’s parents are memorably played by Daniel Ceccaldi and Claire Duhamel. Ceccaldi’s role may represent the most pleasant and neurosis-free father in any movie of the era. He overflows with Dickensian warmth and geniality.“

François Truffaut, Daniel Ceccaldi, Claude Jade, jean-Pierre Léaud

François Truffaut, Daniel Ceccaldi, Claude Jade, jean-Pierre Léaud

Daniel Ceccaldi1972 bittet Daniel Ceccaldi Claude Jade, in Shakespeares „Henry V“ seine kleine französische Prinzessin Catherine de Valois zu spielen, im von ihm inszenierten und gespielten Stück bei Sommerfestivals in Beauhency, Sarlat und Sisteron. Leider fällt dieses schöne Projekt ins Wasser, bei dem man einem berühmten Tochter-Vater-Paar der Filmgeschichte nach ihrer Vermählung auf der Bühne hätte applaudieren können.

Claude Jade schwärmt in ihrer Autobiographie „Baisers envolés“: „Daniel Ceccaldi, toujours disert, charmant et plein d’esprit.“ Heute wäre der Schauspieler 89 Jahre geworden.

Jean-Pierre Léaud, François Truffaut, Claude Jade, Daniel Ceccaldi und Claire Duhamel bei Dreharbeiten zu "Domicile conjugal", 1970

Jean-Pierre Léaud, François Truffaut, Claude Jade, Daniel Ceccaldi und Claire Duhamel bei Dreharbeiten zu „Domicile conjugal“ (Das Ehedomizil / Tisch und Bett, 1970)

Mehr über Daniel Ceccaldi in „Baisers volés“ hier: „Geraubte Küsse“

Einfaches Abendessen

Vergessen einzukaufen? Baby schläft bereits?
Dann ran an die Babynahrung.
Y a plus rien à manger ?
J’ai juste trouve ça, c’est les pots d’Alphonse.
Mmmm ! ça, ça doit être très bon, y’a qu’à manger ça !
Ben oui, mais s’il se réveille.
Qui ça ? Alphonse ? Tu sais très bien que quand Alphonse est endormi, il ne se réveille plus jamais…
Bon d’accord

giphy domicile conjugal claude jade jean pierre leaud nourriture pour bebe
Claude Jade, Jean-Pierre Léaud, „Domicile conjugal“ (1970, François Truffaut)

Palme d’or d’honneur 2016 für Jean-Pierre Leaud

Bei den 69. Filmfestspielen von Cannes wird der Schauspieler Jean-Pierre Léaud am 22. Mai 2016 die Ehrenpalme, die Palme d’or d’honneur, für sein Lebenswerk erhalten. Dies gab heute die Festivalleitung bekannt.

Jean-Pierre Léaud recevra la Palme d'or d'honneur au Festival de Cannes 2016; La Palme d'or d'honneur de la 69e édition du Festival de Cannes sera décernée au comédien Jean-Pierre Léaud, incarnation de la Nouvelle Vague et interprète fétiche de François Truffaut, Claude Jade sa partenaire dans trois films

In drei der wichtigsten Filme Jean-Pierre Léauds war Claude Jade zwischen 1968 und 1979 als Christine Darbon die Partnerin seines legendären Antoine Doinel: « Baisers volés », « Domicile conjugal » und « L’amour en fuite ».

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